WIE DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE FREUNDSCHAFT ENDLICH DEN RHEIN ÜBERSPRANG : Amitié heißt FreundschaftMein Horizont: ein Halbkreis
NACHBARN Hat’s geklappt mit Deutschen und Franzosen? Vier persönliche Geschichten
Leben am Fluss, leben am Rhein sogar, dem Altrhein. Alt, weil er alt ist, in seinem alten Flussbett, dem, auf dem keine Schiffe fahren. Die fahren auf dem Rheinseitenkanal, der weiter im Westen liegt. Dazwischen Wald. Von der Ostseite, der deutschen Seite, wirkte der Fluss unberührt – was für eine Idylle: Schwimmen von einem Ufer zum anderen, Rudern gegen den Strom, Fischen und Angeln zum Vergnügen.
All das hat niemand gemacht. Nicht Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre am Rhein in der oberrheinischen Tiefebene, auf der Höhe des Dorfes. Sechzig Kilometer nördlich von Basel, sechzig südlich von Straßburg. Es ging nicht. Gut, der Rhein war verdreckt, Schwimmen verboten. Angeln auch.
Aber da war etwas anderes, das verhinderte, dass die Leute aus dem Dorf am Rhein zum Fluss gingen, eintauchten, sich an der Schönheit ergötzten, ihn zu einem Teil ihres Lebens machten: Es war die Grenze. Der Fluss war kein Fluss, der Fluss war eine Wand – höher als alle Wände, unüberwindbar, weil im Kopf.
Zuerst geht es an Feldern vorbei und dann über die Schnellstraße. Kurz dahinter fängt der Rheinwald an und am Ende der Straße, da liegt er: der Fluss – behäbig, beschaulich, langsam, breit. Das Flussbild ist wie eine Markierung, eine Prägung, ein geografisches Mutterlächeln: Einmal gesehen, brennt es sich ein. Hinfort müssen meine Flüsse so sein: ohne Dramatik, ohne Stromschnellen, nur weich wogendes Fließen. Wenn ich am Ufer stehe, lasse ich meine Sehnsucht in die Breite ziehen – stromaufwärts, stromabwärts – niemals ans andere Ufer. Denn dort ist das Ausland, das Fremde. Dort waren: die Franzosen.
Aber doch eigentlich nicht die Franzosen. Es waren Elsässer. Elsässer, die alemannisch sprachen wie wir auf der anderen Seite in Südbaden. Damit beginnt, was nicht passt, denn die Wand war trotzdem da.
Die Wand, das ist eine Endlosgeschichte von Kriegen. Mal gehörte das Elsass zu Deutschland, mal zu Frankreich. In der Erinnerung der Großeltern, der Eltern geisterten noch der Deutsch-Französische Krieg 1870/71: Das Elsass fällt an Deutschland; der Erste Weltkrieg: Das Elsass fällt an Frankreich; der Zweite Weltkrieg: Die Deutschen annektierten das Elsass – und nicht wenige Elsässer riefen „Heil“. Aber nach der Kapitulation 1945 wurde es wieder französisch, und plötzlich sprachen die Elsässer nicht mehr deutsch mit den Deutschen, sondern französisch – die Sprache der Sieger. Dazwischen der Rhein. Ohnehin, zum Sprechen gab es nicht viel Gelegenheit. (Die nächste Brücke war zehn Kilometer im Norden.) Man hätte rüberrudern müssen auf die andere Seite. Niemand hat’s gemacht. Nur mein verrückter Großvater schwamm noch ans andere Ufer wie früher – wie vor 1918 –, schwamm rüber zu den „Waggis“, den Steinen. So wurden die Elsässer genannt. Sein Horizont war noch offen. Meiner dagegen ein Halbkreis. 180 Grad, mit einem Fluss im Rücken, hinter dem es nicht weitergeht – und später in Berlin mit einer Mauer, hinter der eine ausgeblendete Welt liegt: ganz normal. Auch über die Oder, die, hat man sie einmal im Rücken, den Horizont halbiert – hier deutsch, dort polnisch –, wundere ich mich nicht.
Mitte der siebziger Jahren sickerte die deutsch-französische Freundschaft dann aber irgendwie durch die Wand. Die Grenze auf der Brücke, ein Abenteuer mit Beamten, grün, grün, grün die Deutschen, blau, blau, blau die Franzosen, und Ausweis und „Haben Sie was zu verzollen“ wurde hin und wieder überschritten. Und die Gymnasiasten waren aufgefordert, Freundschaft mit den Soldaten in der französischen Kaserne in Breisach zu schließen – aber Welten und Sprachbarrieren waren zu hoch. Wir fanden uns öde.
Doch endlich, Anfang der Achtzigerjahre, ein Wunder: Ich lag am Ufer des Rheins. Rilke lesend, die Idylle kopierend, aber abgelenkt von der Schwüle und den Schnaken, die Blut rochen, meines. Keinen Vers hab ich verstanden. Da schoben Männer von der elsässischen Seite ein Boot ins Wasser, ruderten in die Mitte des Flusses, warfen die Angeln aus und riefen mir, die ich auf der deutschen Seite lag, zu: „Fischet Sie nit?“
„Nei, weiß nit, we’s gout“, rief ich und winkte zurück. WALTRAUD SCHWAB
DEUTSCH-FRANZÖSISCHE IDENTITÄT? FINDET MAN AM BESTEN IN AMERIKA
Die Entdeckung auf der anderen Seite des Atlantiks
Wir waren erst der zweite Jahrgang dieser Schule, neun Wochenstunden Französisch, die Gallier, Napoleon und die Überseekolonien. Meine Eltern habe ich immer im Verdacht gehabt, dass sie mich und meine Schwestern nur aufs Deutsch-Französische Gymnasium schickten, damit wir im Frankreichurlaub dolmetschen konnten. Das ging mitunter auch schief: Einmal empfahl ich im Restaurant dem Rest der Familie, Rognons zu bestellen (das klang irgendwie nach Filet mignon). Fast alle fielen darauf herein, sodass wir uns schließlich zu sechst ein Schnitzel klein schnitten, während mein Vater klaglos die geschmorten Nierchen aß.
Im DFG in Freiburg-Littenweiler lernten wir die Partnersprache nach einer neuen Methode: nie übersetzen, immer auf Französisch mit eigenen Worten umschreiben. Auf dem Schulhof schmuggelten wir deutsche Vokabeln in die Sätze. Heute formuliere ich in keiner anderen Sprache so unpräzis, aber die Aussprache klingt ziemlich echt, und mein Sortiment an französischen Schimpfwörtern ist unschlagbar.
Auf neun Jahre disziplinierte Integration in der Schule folgten anderthalb Jahrzehnte bei einer französischen Weltfirma. Frankophil? Na ja. Wenn ich’s überschlage, habe ich vielleicht 15 Monate meines Lebens im „Partnerland“ verbracht. In den USA war ich zusammengerechnet 15 Jahre. Amerika ist meine Wahlheimat geworden.
Und hier habe ich dann doch meine europäische Identität ermessen. Ich musste erst den Atlantik überqueren, um in der deutsch-französischen Freundschaft anzukommen, Adenauer hätte das goutiert. Denn ich habe festgestellt, dass Amerikaner stundenlange Diskussionen über Politik oder Philosophie für ungesellig halten. Anders ist das bei meinen Französinnen und Franzosen hier in den USA. Treffe ich sie, kommen mir Jugenderinnerungen in den Kopf, ich denke an Tischmanieren, an Begrüßungsrituale. Es ist mit ihnen anders als Freundschaft, eher wie das Verhältnis zwischen Cousinen und Cousins. Nicht unbedingt einfach, oft dysfunktional, aber immer etwas Besonderes.
In Washington D. C. lästerte ich mit Brigitte aus Grenoble beim Lunch an der K Street über den Versuch der amerikanischen Büroleitung, sich vertraglich gegen sexuelle Belästigungsklagen zu schützen. In Missoula/Montana versuchte mir Michel aus Toulouse bei langen Abendessen den Strukturalismus nahe zu bringen. In welcher Sprache? Auf Englisch natürlich.
HENRIETTE LÖWISCH
SCHÜLERAUSTAUSCH, SOZIALES JAHR, STUDIUM. SCHLÄGEREI
Als der respect pour l’autre abhanden kam
Meine Brille am Kneipenboden. Zwei Biergläser in Scherben. Und Lydias Spucke im Gesicht der französischen Bardame.
Es war weit gekommen in Paris, im Frühsommer 2002.
Viseneber, der Französischlehrer, hat mich angefixt. Erst mit der Sprache, dann mit den lächerlichen Preziosen, der kahlen Sängerin, den verschlossenen Türen, was man an westdeutschen Gymnasien in den Achtzigern halt so las. Es folgte das Unvermeidliche: Schüleraustausch. Soziales Jahr im französischen Kinderheim. Studium in Marseille. Jean-Michel, der mir an einem 11. November (1918, Waffenstillstand!) begegnet ist. Und immer ging es auch um den Beweis, dass die violence eine Sache von gestern sei. Und heute der respect pour l’autre oberstes Gebot unseres deutsch-französischen Miteinanders.
Bis Paris 2002 und Lydia. Lydia aus Belgrad, tagsüber Journalismusfortbildungen, abends die Kneipe gegenüber unserer Schule, zehn Monate lang. Die Bomben auf ihr Land, der Grüne Joschka, Fragen der Zulässigkeit militärischer Einmischung. Endlosdebatten. Oft mit dabei: der großzügige französische barman. Und Freibier, zum Missfallen seiner Chefin. Dann ging das Schuljahr zu Ende, es gab diese Party, und Lydia hat gesagt, dass wir den Kellner einladen müssen. Dass dieses Mal wir ihm das Bier kaufen. Die Party kollidierte mit seinem Dienstplan. Da wusste die Chefin wohl noch nicht, dass ich mich ein Jahr lang im Insistieren geübt hatte. Sie konterte mit salope und bosch. Worte, die ich, respect pour l’autre, überhörte. Lydia nicht. Lydia pfiff auf den deutsch-französischen Umgang. Sie spuckte. Kassierte eine Ohrfeige. Wurde von mir weggerissen, rempelte die Chefin an, fiel. Es wurde unübersichtlich. Ich fürchte, auch ich habe um mich geschlagen. Was Hausverbot auf Französisch heißt, habe ich verdrängt.
Ein paar Tage später stand er vor der Schule. Mit einem Sixpack – Geschenk des Hauses. Freundschaft, sagte er, muss so was aushalten. HEIKE HAARHOFF
BON ANNIVERSAIRE
Das Problem mit dem „H“
Was schenkt man einer französischen Freundin zum 35. Geburtstag? Ihr Freund Pierre morst per Mail von Paris nach Berlin, dass sie sich einen „Ampelmann“ wünscht. „Sarane liebt Ampelmänner seehr.“ Ich lachte mich scheckig: Der Franzose an sich hat es nicht so mit dem „H“. Er meinte wohl „Hampelmänner“, der Gute.
■ Der Termin: Am 8. Juli 1962 feierten Frankreichs Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer eine gemeinsame Messe in der Kathedrale von Reims – in der bereits die Könige Frankreichs gekrönt wurden. Das Treffen zählt zu den Meilensteinen der deutsch-französische Freundschaft. Nun, 50 Jahre später, am Sonntag nächster Woche, soll die deutsch-französische Freundschaft aufgefrischt werden: mit einem erneuten Treffen der Chefs beider Länder. Frankreichs Präsident François Hollande und Kanzlerin Angela Merkel kommen zusammen, wieder in der Kathedrale von Reims.
■ Die Geschichte: Die Kathedrale wurde im Ersten Weltkrieg von der deutschen Artillerie kaputt geschossen. 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht in Reims. Das Treffen 1962 galt der deutsch-französischen Aussöhnung. Damals soll der Élysée-Vertrag auf den Weg gebracht worden sein, auch „Freundschaftsvertrag“ genannt. In der Folge wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk gegründet, es entstanden Partnerschaften von Städten, Schulen und Vereinen.
Sarane kenne ich seit fünfzehn Jahren – im Zentrum für Osteuropa-Forschung Lüneburg hatten wir uns anlässlich einer studentischen Exkursion bis in die frühen Morgenstunden einen auf die Lampe gegossen und zu Abba getanzt, in einer Art Dorfdisko. Sie sah aus wie Catherine Deneuve mit 22 und rauchte XXXXL-Slimeline-Zigaretten, was ich ganz toll fand. Endlich hatte ich eine interessante französische Austauschschülerin gefunden, nach all den Langweilern der „Echange“-Programme zu Schülerzeiten. Wie soll man mit jemandem Französisch sprechen, der den Mund nicht aufkriegt, weil er gerade mit der Pubertät beschäftigt ist? Und küssen war erst recht nicht drin.
Mit Sarane war etwas anzufangen! Sie beschloss, drei Jahre in Berlin zu leben. Sie, die Germanophile, genoss diese Zeit sehr – Nacktbaden im See, Sekt auf der Straße trinken und in der U-Bahn Beck’s. Erst später begriff ich, warum sie so aufdrehte: In Frankreich gehört sich vieles nicht. Nur in Berlin konnte sie frei sein – und kehrte doch nach Frankreich zurück, um ihre Pflicht zu erfüllen. Wer Absolventin der École Normale Supérieure ist, macht nicht irgendwas mit Kunst oder eröffnet einen Concept Store. Wer an der Eliteuniversität in Paris reüssiert, wird mindestens höhere Staatsbeamtin und braucht morgens eineinhalb Stunden, um Madame zu werden. In Frankreich schlüpft man nicht in die Jeans, um zum Discounter zu schlurfen. Contenance.
Und nun schien sie in der ferne Fremde ihrer Heimat auch noch auf einen Hampelmanntrip gekommen zu sein. Eine sinistre Reaktion auf die Präsidentschaft Sarkozys? Eine Andeutung auf nahende Schwangerschaft? Hampelmänner?!?
Als ich schließlich in Paris auf der Matte stand und ihr diverse Devotionalien mit dem berühmten Ostberliner Ampelmännchen (!) überreichte – irgendwann fiel der Centime dann doch – war Sarane gerührt: Sie hatte Berlin und ihre ungestümen Freunde aus dem deutschen Wald in ihrem Herzen bewahrt und freute sich über die Souvenirs. Ist es nicht völlig normal, dass man in der Fremde ein anderer sein kann, als in der eigenen Heimat? Vor allem, wenn man sehr jung ist und in der Ausprobierphase? Man soll keine Vorurteile hegen, schon gar nicht gegenüber langjährigen Freunden. MARTIN REICHERT