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Archiv-Artikel

WESTCOAST-COOLNESS VERTREIBT NIESELREGENFEBRUAR, EX-MITBEWOHNER SIND INTERNATIONAL UNTERWEGS UND IM ASTRA GIBT’S EINE TOTENMESSE DES ROCK Pack die O)))hrenstöpsel ein, wenn die Verstärkerarmee angreift

VON JENS UTHOFF

Vor der Columbiahalle stehen die coolen Kids mit den Käppies und den blinkenden Ohren, den engen Hosen und den weiten Jacken. Schwarze Kids, weiße Kids, Arabboys und Arabgirls. Und andere. Eine mit einem lila Fell obenrum steht direkt neben mir. Kalter Nieselregen geht nieder. Den Jungs und Mädels hier ist das scheißegal.

Kendrick Lamar, der neue große Westcoast Hip-Hopper, spielt im Saal. Er stellt am Freitagabend seine großartige Rap-Erzählung „Good Kid, m.a.a.D. City“ vor. Ich sitze auf den Rängen mit Blick auf die wogende Masse. Der smarte kalifornische Rapper hat den Saal im Griff. „Swimming Pools“ ist ein verdammter Hit, ich wippe auf dem Geländer mit. Vielleicht wird aus mir doch noch ein passabler spät berufener Hip-Hopper.

Ein schön gemischtes Publikum in der C-Halle: Neben den Rap-Kids sind da grauhaarige Musiknerds, Normalos, junge Schicksen mit viel Umhängezeugs. Lamar schlendert über die Bühne, rappt nasal, quäkend, brummend, in jeder Stimmlage und jeder Geschwindigkeit. Er hat nur einen DJ im Rücken. Lamar vertreibt den Nieselregenfebruar spielend, und das trotz C-Halle – kein doller Konzertort.

Selbstmörder zu verkaufen

Am Samstag gibt‘s tagsüber Hallenfußball mit Turbine Potsdam. Abends treffe ich Ex-Mitbewohnerin K. in einem Neuköllner Café. Ehemalige Mitbewohner sieht man entweder nie wieder, oder man bewahrt sich ein kumpelhaftes Verhältnis, bei ihr trifft letzteres zu. K. hat gerade den Text eines rumänischen Autors übersetzt und will ihn einem Verlag verkaufen. Sie zeigt mir den Text. Ein Autor, der auf der ersten Seite den Satz „Wie jeden Tag will ich mich auch heute umbringen“ unterbringt, scheint zumindest seinen Beruf nicht verfehlt zu haben. „Die Literaturgeschichte wimmelt nur leider von Selbstmördern“, sage ich, „man muss dem Verlag wohl irgendwie klarmachen, was an diesem hier besonders ist.“ Später gehen wir noch ins Freie Neukölln und trinken Rollberg rot, ein ganz feines Pilsener, direkt in der Nachbarschaft gebraut. Nach zwei, drei Bier beschließen wir, 2013 muss in Liebesdingen bei uns beiden besser laufen als 2012.

Und am Sonntag ist noch ein anderer ehemaliger Mitbewohner, J., zu Besuch in der Stadt. Wir treffen uns mittags am Kotti und gehen in den Bierhimmel. Komische Zeit, um im Bierhimmel zu sein. Deshalb katapultiere ich mich zunächst auch auf eine Cappuccinowolke. J. wiederum erzählt von seinem Leben in den Wolken – er ist Pilot. Er fliegt seit einem Jahr, zusammengewohnt haben wir noch zu der Zeit, als er die Flugschule besuchte. Er ging morgens zum Simulatortraining, ich zur Uni. „Jetzt muss ich mir eigentlich nur noch den Arsch im Cockpit wundsitzen und mich um nichts mehr sorgen“, sagt er. Ich kenne keinen, der einen so sicheren Job wie er hat. „Das ist aber auch ’ne komische Situation, auf einmal ist da überhaupt nichts mehr, worauf man hinarbeitet“, sagt er. Und im selben Atemzug, dass er aber bestimmt nicht jammern wolle. „Im Winter bin ich extra viel nach Jordanien geflogen“, sagt er, als ich ihn nach den Zielen frage, „wir können immer selbst Wunschorte requesten. Amman ist ’ne superangenehme Stadt, und an der Ruinenstätte Petra war ich auch noch.“ Nach zwei Stunden Bierhimmel sagen wir Tschüss, er muss in der Nacht Berlin – London – Berlin fliegen.

Am Abend spielen noch die Mönchskuttenrockbeerdiger Sunn O))) im Astra – die hatte ich noch nie gesehen. Im Astra tummeln sich vornehmlich ältere Herr- und Frauschaften, die die Drone-Doom-Band aus Seattle sehen wollen. Am Tresen hole ich Bier und Ohrstöpsel, die nötig sein werden. Eine Verstärkerarmee ist auf der Bühne aufgebaut, zirka zehn in einer Reihe.

Der Raum ist in bläulich-violetten Nebel gehüllt, Kutten tragende Menschen sind auf der Bühne schemenhaft zu erkennen und schlagen einzelne, ultratiefe Akkorde an. Die klingen dann gefühlte fünf Minuten aus. Alles vibriert. Es durchzuckt den Körper bis in die letzte Zelle. Mensch und Maschine sind eins. Und Sunn O))) geben mir den Rest für dieses Wochenende.