WEIHNACHTSMARKT : Essen Nr. 61a
Ich komme von einer Hochzeit und stehe Samstagnacht um eins mit Stöckelschuhen am Gesundbrunnen. Ich habe weder getanzt noch den Brautstrauß gefangen, geschweige denn es versucht. Ein kleiner, untersetzter Mann in hellblauem Hemd und schwarzer Funktionsjacke pinkelt gegen das Häuschen der Fahraufsicht. Er hat viel zu viel getrunken, denn er pinkelt ausgiebig gegen die roten Backsteine, die Pfütze zu seinen Füßen wächst und wächst.
Ich gucke ihn so böse an, wie ich nur kann, sage aber nichts, denn nachts mit möglicherweise betrunkenen Männern streiten, muss nicht sein. Aber ich gucke böse. Verstohlen hebt er den Blick, sieht meinen und sagt: „Das ist nur wegen der Kälte.“ Ich gehe weiter. Was für ein Quatsch, warum muss man wegen der Kälte auf den Bahnsteig pissen? Als er fertig ist, kommt er mir hinterher. „Das lag jetzt wirklich nur an der Kälte.“ Ich gucke möglicherweise etwas komisch. „Also im Zimmer, wenn es etwas wärmer ist, da ist er größer! Also richtig groß ist er nie, aber dass er so klein ist, das lag jetzt wirklich nur an der Kälte.“ Der Mann ist ungefähr Anfang dreißig. Er guckt mich harmlos an, etwas schüchtern fast.
Ich muss lachen. Er redet weiter: „Das ist jetzt ja echt ne blöde Situation. Und das in der Weihnachtszeit! Das ist mir jetzt so peinlich.“ „Das sollte es wohl auch!“, sage ich. „Und hier hinzupissen ist eigentlich auch nicht gut “, murmelt er. „Ich komme doch nur vom Weihnachtsmarkt!“ Es klingt, als würde er gleich weinen.
Ich verweigere ihm das Gefühl der Läuterung und segne seine Entschuldigung nicht ab. Ein indisch aussehender Mann kommt mit einer Styroporbox mit Esseninhalt den Bahnsteig entlang. Der Schrumpfpinkler spricht ihn an: „Nummer 61a, die hatte ich bestellt!“ Der Mann lächelt und sagt: „Wenn du so Hunger, nimm es“, und gibt ihm die Box. NICOLA SCHWARZMAIER