WAS WILL ICH FÜR EIN KIND? : Dunkle Wolken
VON LUCIE MARSHALL
Auf dem Spielplatz jammere ich meiner Freundin Raffaella die Ohren voll: „Sam will abends einfach nicht einschlafen. Ab 19 Uhr heult er vor Müdigkeit, aber wenn’s Richtung Bett geht, dann mobilisiert er die letzten Reserven und hampelt bis 22 Uhr herum. Ich könnte WAHNSINNIG werden. Außerdem muss ich danach ja immer noch arbeiten, komme nie vor Mitternacht ins Bett und bin konstant müde.“
Ich suhle mich in meinem Elend. Raffaella schaut mich prüfend an, allerdings ohne jedes Mitleid. „Aber er kann sich schon alleine die Schuhe anziehen, aufs Klo gehen, hat erkannt, dass meine Frisur neu ist, und liest gerne Bücher, oder?“
Wohin will die denn? „Jaaa …“, sage ich vorsichtig. „Genau“, sagt sie zufrieden, „Warum hältst du die Lampe nur in die Ecke, in der es ein Problem gibt?“ Ich schaue sie abwartend an. „Lucie, ich weiß, dass Schlafentzug nicht ohne Grund eine Foltermethode ist. Aber Sam ist dreieinhalb Jahre alt und kann schon so viel. Warum starrst du auf das, was noch nicht so gut klappt, anstatt auf das, was schon großartig läuft. Erinnere dich bitte an deine eigene Schulzeit!“
Aha, da will die hin. Mmmh. Ich bin eigentlich gerne zur Schule gegangen und war in den meisten Fächern gut. Aber plötzlich war in Deutsch beim Thema Grammatik der Wurm drin und in null Komma nix war dieses Thema so aufgeladen, dass ich alleine bei dem Wort „Objekt“ Ohrensausen bekam. Ich konnte zwar normal schreiben, aber wenn ich den Unterschied zwischen Objekt und Subjekt erklären sollte, war mein Hirn wie eingefroren. Es wurden Unmengen an Geld, Zeit und Energie in dieses Thema gesteckt. Dass ansonsten alles glatt lief, blieb natürlich unerwähnt. Mein Selbstwert war dahin, und wenn beim Mittagessen das Thema auf den Tisch kam, verdunkelte sich die Miene meiner Mutter und mein Magen schnürte sich zu. Eine tiefschwarze Grammatikwolke schwebte über meinem Leben.
Raffaella hat recht, leider ist es mit Sams Schlafthema ähnlich. Ich bekomme schlechte Laune, wenn ich nur daran denke, und mutiere zur hysterischen Kuh, wenn nicht alles wie am Schnürchen läuft. Was will ich eigentlich für ein Kind? Eine perfekt funktionierende Maschine? Bin ich ja selber nicht.
Als Sam am Abend im Schlafanzug ist, hole ich einmal tief Luft und versuche die drohende Wolke wegzupusten. Ich setze mich an sein Bett und nehme Raffaellas „Taschenlampe“ in die Hand und erzähle mir und ihm, was wir schon alles hingekriegt haben. Mein Monolog dauert sehr lange, und als ich fertig bin, schnarcht Sam neben mir.
■ Tanya Neufeldt alias Lucie Marshall schreibt hier über den zauberhaften Wahnsinn, der über uns hereinbricht, wenn frau Kinder bekommt. Vor allem, wenn frau sich an ein unabhängiges Leben gewöhnt hatte. luciemarshall.com