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Archiv-Artikel

WALDSTERBEN: SCHÄDEN AM HÖCHSTEN, ABER DER BERICHT MUSS WEG Lieber nicht so genau hinschauen

Zuerst gab es eine semantische Durchforstung: Aus dem „Bericht zum Waldsterben“ wurde unter der Regierung Kohl der „Waldschadensbericht“. Der war immer noch zu negativ und mutierte zum „Waldzustandsbericht“. Jetzt wird er ganz abgeschafft oder zumindest auf einen Vier-Jahres-Zyklus reduziert, um Bürokratie abzubauen, heißt es. Agrarminister Seehofer entsorgt den Sorgenbericht mit seinem Tannengilb, seinen Fichtenfenstern und Kronenverlichtungen, seinen Vitalitätsstörungen und Schadstoffeintragmustern.

Die Verkündung der Fieberkurve des deutschen Tanns war ein festes Ritual, das den Amüsierbetrieb zumindest einmal im Jahr daran erinnerte, was die Erotik des Rallyestreifens und ewiges Wachstum anrichten. Der Wald ist der wichtigste Bioindikator, den wir haben, er ist die Warnlampe auf unserer Anzeigentafel. Jetzt wird sie überklebt, weil uns das nervige Geblinke lange genug belästigt hat.

In den 70er- und 80er-Jahren hat uns der Bioindikator Wald angezeigt, dass der Böden sauer und die Luft geschwefelt war. Heute signalisiert er, dass sich das Klima rasant verändert, dass Trockenheit und Hitzestress zunehmen. Aber wir wollen es lieber nicht so genau wissen. Die Pointe: Der Bericht zum Waldsterben wird exakt zu dem Zeitpunkt abgeschafft, da die Schäden ihren Höhepunkt erreicht haben. Die beiden letzten „Zustands“berichte dokumentierten ein Rekordniveau von 30 Prozent schwer geschädigter Fläche, der höchste Stand seit Beginn der Erhebungen 1983. Der schlimmste Befund erhält die geringste Aufmerksamkeit. Dieses Schicksal teilt der Wald mit Aids und anderen Katastrophen. Die Beschwörung kommenden Unheils ist interessanter als das Unheil selbst.

Für die Gesellschaft ist der Wald ohnehin nur noch Kulisse. Vorbei die Zeiten, als die deutsche Seele im Tannengrund ausatmete. „Die Eindringtiefe des Menschen in den Wald hat sich verringert“, sagen die Förster. Der Wanderer wandert immer kürzer. Immer weniger wollen in den Wald hineinlauschen. Doch der Wald braucht uns nicht, aber wir brauchen den Wald. Und: Der Wald denkt in Jahrhunderten, Seehofer bis zur nächsten Wahl.

MANFRED KRIENER