Vorgezogener Erntemonat: Harmonisches Knarzen
Unter dem Titel „Vom Hier und Jetzt“ zeigt der Kunstverein Hannover zeitgenössische Kunst aus Niedersachsen und Bremen in einer Übersichtsausstellung.
Der Versuch, die künstlerische Kreativität im Nordwesten in Form einer Überblicksausstellung in den Blick zu nehmen, hat einige Tradition: 1907 veranstaltete der Kunstverein Hannover die erste dieser sogenannten „Herbstausstellungen“. Seither wird über die Sinnhaftigkeit dieser Unternehmung diskutiert, aber gerüttelt wird an ihr nicht.
Für die diesjährige Ausgabe wählte die Jury den neutralen Titel „Vom Hier und Jetzt“. Präsentiert werden fast ausschließlich neue Arbeiten von insgesamt 48 KünstlerInnen. Einen roten Faden oder in verdichtendes Resümee gibt es nicht, stattdessen setzte die Jury auf den immanenten künstlerischen Dialog.
Gut die Hälfte der Positionen stammt von Künstlerinnen, zudem ist die Hälfte der Beteiligten unter 40 Jahre alt. Die vier Ausstellungsorte geben sowohl stillen als auch offensiven künstlerischen Temperamenten Raum: Neben dem Kunstverein sind wieder die Galerie „Vom Zufall und vom Glück“, die städtische Galerie Kubus und die Nord/LB Art Gallery sowohl als Gastgeber als auch als Sponsoren mit von der Partie.
"Vom Hier und Jetzt" ist die 86. Herbstausstellung des Kunstvereins Hannover.
Er ist dienstags bis samstags von 12, an Sonn und Feiertagen von 11 bis 19 Uhr geöffnet.
Weitere Infos unter: http://www.kunstverein-hannover.de/
Im Kunstverein treffen gleich im ersten Saal zwei Installationen und eine kontemplative Fotoarbeit exemplarisch aufeinander. Der Bremer Hanswerner Kirschmann stellt strenge, rohe Volumen aus Spanplatten, die indifferent zwischen Zwei und Dreidimensionalität verharren, gegen eine Materialschlacht aus Glitzerfolie, Teppich und anderem Textil von Gilta Jansen. Sie beschwört darin die Schönheit im Versehrten.
Gefrorene Carrerabahn
Auf die Flächenkombination des ehemaligen HBK-Professors Lienhard von Monkiewitsch aus Braunschweig antwortet Christian Dootz. Seine lange Montage aus analogem und digitalem Fotomaterial hält Spielzeugboliden und ihre Lichtspuren auf einer Carrerabahn fest. Die Zeit ist eingefroren, das dynamische Geschehen ad absurdum geführt.
Eine paradoxe Maschinerie gesellt sich dazu. Sie stammt von Oliver Blomeier aus Braunschweig, er hat vor seinem Kunststudium Automechaniker gelernt. Auf einem Fahrrad kann der Besucher seine Runden um eine übergroße Schallplatte drehen, ein Tonabnehmer mit archaischem Trommelverstärker und Lautsprechertrichter gibt einen leichten Klang wieder. Im Laufe der Benutzung wird die Plattenrille zur tiefen Furche werden, statt „Into the Groove“, so der Titel, führt letzten Endes alles ins harmonische Knarzen.
Den weiteren Weg durch die insgesamt neun Räume des Kunstvereins prägt ein Aufprall der Generationen. Raimund Kummer, in Braunschweig Bildhauerei lehrend, hat ein imaginäres Archiv aus einheitlich braunen Pizza-Schachteln aufgeschichtet, das wohl nur durch ihn selbst, vor Ort vertreten durch sein angelehntes Fahrrad, einer Deutung unterzogen werden könnte. Während Jochen Isensee, junger Absolvent aus Braunschweig und preisgekrönter Computerspiel-Designer, ganz unbekümmert am Monitor zum interaktiven Rundgang durch die animierten Räume des Kunstvereins einlädt.
Die Schaufenster der Galerie „Vom Zufall und vom Glück“ zieren textile Arbeiten. Die gebürtige Hannoveranerin Jana Engel – sie hat an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert – zeigt eine Kollektion schwarzer Stofftaschen, bedruckt mit den Namen von Schiffen, die Ziele weltweiter Piraterie wurden. Sie entlarvt und verschlüsselt die Strategien der Mode, sich tagespolitische Ereignisse einzuverleiben.
Einen konsumkritischen Ansatz verfolgt der Japaner Shige Fujishiro aus Hannover. Er hat Plastiktüten von Discountern oder teuren Modemarken in aufwendige Perlenstickereien überführt. Mit diesen Einzelstücken, die nun den üblichen Rückschluss auf den sozialen Status des Benutzers verwehren, inszeniert er sich anschließend als obdachloser Flaschensammler oder satter Konsument, der achtlos an einem Haufen Nobelmüll vorbeizieht.
In der Städtischen Galerie Kubus hat Katrin Bertram aus Hannover das Repertoire der klassischen Musik um ineffiziente Tonhöhen, Dynamiken und Tempi bereinigt. Sie hat vor ihrem derzeitigen Kunststudium in München zehn Jahre in der Prozessoptimierung gearbeitet. Dabei brauchte sie von den Inhalten der zu entschlackenden Vorgänge nicht Bescheid zu wissen, so Bertram, folglich ging sie ohne musikalische Vorbildung zu Werke.
Spektakulärer Endpunkt der Herbstausstellung ist wohl das sechs Meter lange, wenngleich fahruntüchtige Automobil des in Braunschweig arbeitenden Kolumbianers Felipe Cortés Salinas. Mehrere BMW und Golf-Hälften hat der Schwitters-Fan notdürftig mit Gurten zusammengehalten, Bandagen aus Frischhaltefolie konservieren seine vergangene Antriebsgewalt. So steht nun ein groteskes Vanitas-Symbol im Schaufenster der Nord/LB Art Gallery, von welkem Buchenlaub umflort.
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