Vergewaltigung als Waffe: Alles was ihr findet gehört euch

Warum vergewaltigen Soldaten? Expertin Regina Mühlhäuser erklärt, wie sexuelle Gewalt als Mittel des Krieges eingesetzt wird.

Frauen protestieren in Berlin gegen Gewalt an Frauen und Mädchen beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Foto: dpa-Bildfunk

Von REGINA MÜHLHÄUSER

Gibt es in historischer Sicht Kriege, in denen es nicht zur Anwendung sexueller Gewalt gekommen ist?

In jedem Krieg kommt es zu sexueller Gewalt, aber das Ausmaß und die Intensität können stark variieren. Über die Ursachen streitet man in der Forschung. Zu beobachten ist generell, dass sich sexuelle Gewalttaten im Krieg nicht nur gegen den Gegner richten. Auch innerhalb der eigenen Gruppe kommt es vermehrt zu Vergewaltigungen.

Warum vergewaltigen Soldaten?

Oft wird angenommen, Vergewaltigungen seien ein direktes Ergebnis von Kriegspropaganda, etwa des Radiosenders RTLM während des Genozids in Ruanda. Aber die Forschung zeigt: Die Rolle solcher Aufstachelungen ist gar nicht so maßgeblich für das Verhalten der meisten Kämpfer. Vielmehr scheinen viele Soldaten zu vergewaltigen, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet. Die oft sehr jungen Männer hoffen, im Kriegs- und Besatzungsgebiet – fern von der sozialen Kontrolle zu Hause – Abenteuer zu erleben, auch sexuelle Abenteuer. Sie gehen davon aus, das Recht zu haben, Frauen und Mädchen anzumachen, zu belästigen und eben auch zu vergewaltigen. Krieg ist zudem eine körperliche Erfahrung. Soldaten müssen bereit sein, Gewalt auszuüben, ihren Gegner zu töten, aber auch Gewalt zu erleiden, getötet zu werden. Und in dieser Extremsituation kommt es zu Emotionen und körperlichen Affekten – Angst, Überwältigung, Erregung, Ekel und so weiter. Hier verschmilzt Gewalt mit Sexualität. Die Männer handeln oft auf eine Art, die vorher undenkbar für sie gewesen wäre.

Wenn ein großer Teil der Soldaten sexuelle Gewalt verübt, weil der Krieg Gelegenheiten dazu eröffnet, wie kann man dann davon sprechen, dass diese Gewalt als Mittel des Kriegs eingesetzt wird?

Es gehört zum militärischen Wissen, dass Soldaten in der Extremsituation des Kriegs sexuelle Gewalt ausüben. Militärführer erwarten, dass das passieren wird. Sie leiten also entweder von vornherein Maßnahmen ein, die diese Form von Gewalt strikt verbieten und bestrafen. Oder aber sie nutzen das Verhalten der Soldaten für ihre Kriegsführung.

Was heißt das konkret?

Befehlshaber tolerieren, akzeptieren, unterstützen das Verhalten ihrer Soldaten. Ein Beispiel: Am 16. März 1968 verübten US-Soldaten im vietnamesischen My Lai ein Massaker. Am Vorabend traf sich die »Task Force Barker«, um sich auf den Angriff einzustimmen. Dabei befahl Kompaniechef Ernest Medina nicht: »Geht und vergewaltigt.« Vielmehr ermunterte er seine Männer: »Alles, was ihr findet, gehört euch.« Und am nächsten Tag kam es – neben anderen Verbrechen – zu Vergewaltigungen und sexueller Folter. Die Soldaten gingen davon aus, dass zu »Alles, was ihr findet« nicht nur Wertgegenstände et cetera gehören, sondern auch Frauen. Warum? Das hängt mit kulturellen Vorannahmen zusammen, denen zufolge es erlaubt, ja geboten ist, Verfügungsgewalt über die Frauen des Feindes auszuüben. Und Medina wusste das. Er hat sexuelle Gewalt insofern in seine Kalkulationen, was passieren würde, einbezogen.

Aber folgt man den Militärgesetzen, dann war und ist sexuelle Gewalt doch verboten?

Ja, jede Armee und bewaffnete Gruppe hat Gesetze, die Vergewaltigung verbieten. Aber sie werden in der Regel nur angewandt, wenn die Vorgesetzten eine Tat als Verstoß gegen die Kriegsziele werten, zum Beispiel als Disziplinmangel, der sich schädlich auf die Kampfkraft der Truppe auswirkt. Oder wenn ein längerfristiges Besatzungsregime eingerichtet werden soll und Vergewaltigungen die Kollaborationsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung schwächen. Andere Formen sexueller Gewalt tauchen erst gar nicht in Militärgesetzen auf, etwa das Befingern der Genitalien bei Durchsuchungen. Darüber hinaus beteiligen sich Armeeführungen trotz solcher Gesetze aktiv an der sexuellen Ausbeutung von Frauen. Im Zweiten Weltkrieg etwa waren die deutsche wie die japanische Armee daran beteiligt, Frauen und Mädchen in Soldatenbordellen sexuell zu versklaven. Bis heute wird behauptet, die Betroffenen hätten sich aus freien Stücken dazu entschieden, obwohl dies nur für die Wenigsten zutreffen dürfte. Hier zeigt sich ein gravierender Mangel an Unrechtsbewusstsein.

Welche Funktion erfüllt sexuelle Gewalt für die Täter und die Befehlsgeber?

Sexuelle Gewalt kommuniziert auf unterschiedlichen Ebenen: an das Opfer, an das gegnerische Kollektiv, aber auch innerhalb der Tätergruppe. Vergewaltigungsopfer gelten bis heute oft als beschmutzt. Ihnen wird vorgeworfen – und sie werfen sich selbst vor –, durch ihr Verhalten zum Täterhandeln beigetragen zu haben. Das führt zur Entfremdung von Partner:innen, Familienangehörigen und sozialen Gruppen. Aus Vergewaltigungen geborene Kinder erfahren oft Ablehnung. Sexuelle Gewalt hat also das Potenzial, gesellschaftliche Zusammenhänge langfristig zu zerstören.

Vergewaltigung trägt zudem eine Nachricht von Mann zu Mann: Ihr seid nicht in der Lage, eure Frauen und Kinder zu schützen. So wird auch der Sieg über ein gegnerisches Kollektiv kommuniziert. Gerade weil diese Gewalt so intim ist, führt sie auf besondere Weise zur Demütigung des Gegners. Damit kann sie auch dazu beitragen, genozidale Dynamiken zu verschärfen.

Sexuelle Gewalt ist aber auch ein Mittel der Kommunikation innerhalb der Gruppe der Täter. Sie bestätigt die Täter in ihrer Männlichkeit und fördert das male-bonding und den Zusammenhalt in den kleinen Einheiten. Dadurch, dass die Armee sexuelle Gewalt stillschweigend billigt oder aktiv fördert, sichert sie sich auch die Loyalität ihrer Männer.

Gibt es weniger sexuelle Gewalt, wenn die Armeen nicht nur aus Männern bestehen?

Dafür gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Studien zur Integration von Frauen in die Armee haben gezeigt, dass Soldatinnen unter Druck stehen, sich gegenüber ihren männlichen Kameraden zu beweisen. Das führt unter anderem dazu, dass sie sich an sexueller Folter beteiligen. Gleichzeitig sind sie aber auch Opfer von sexueller Gewalt innerhalb der Armee – ein Thema, das bis heute weithin tabuisiert wird.

In letzter Zeit hört man immer häufiger, dass auch Männer Opfer sexueller Gewalt werden. Wie können wir das verstehen?

Solche Beobachtungen sind nicht neu. Sie wurden nur lange nicht als sexuelle Gewalt, sondern als Folter und damit als politische Gewalt thematisiert. Was die neue Debatte zeigt: Männer sind in ihrer Männlichkeit und ihrer Sexualität verletzbar. Allerdings sind die Bedingungen, Machtstrukturen und Dynamiken, die diese Gewalt hervorbringen und prägen, ganz andere, je nachdem, ob sie sich gegen Frauen oder gegen Männer richtet. Wir brauchen hier in Zukunft viel genauere Untersuchungen.

REGINA MÜHLHÄUSER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und Koordinatorin der International Research Group ›Sexual Violence in Armed Conflict‹. Zuletzt erschienen: Gaby Zipfel / Regina Mühlhäuser / Kirsten Campbell: Vor aller Augen. Hamburger Edition 2021 – 576 Seiten, 45 Euro

Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.

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