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Archiv-Artikel

Ver.dis bedrohliche Schwäche KOMMENTAR VON ULRIKE HERRMANN

Die Häme ist nie weit, wenn Gewerkschaften schwächeln. Und wie sie schwächeln. Auf dem Ver.di-Bundeskongress wird es das heimliche Hauptthema sein, wie der dramatische Mitgliederschwund noch zu stoppen ist. Außerhalb von Ver.di wird diese Debatten fast niemanden interessieren; schon längst ist die öffentliche Anteilnahme an den großen Gewerkschaften erloschen. Sie wirken antiquiert, bürokratisch, unbeholfen. Streiks mit Trillerpfeife – derartiger Protest gehört nicht zu den Selbstinszenierungen, die der Hauch der Avantgarde umweht.

Aber letztlich ist es gar nicht die Form des Auftritts, weswegen die Gewerkschaften so wenig Achtung erfahren. Fremd ist für sehr viele ihr inhaltlicher Anspruch. Die Gewerkschaften glauben unbeirrt, dass Arbeit anständig bezahlt werden muss. In der Mehrheit der Gesellschaft hingegen hat sich inzwischen festgesetzt, dass alle dankbar zu sein haben, die überhaupt arbeiten dürfen. Da wird jeder Lohn denkbar, auch der niedrigste. In diese Ideologie passt keine Gewerkschaft.

Die Schwäche der Gewerkschaften erklärt auch ein Phänomen, das in dieser Woche die Schlagzeilen beherrscht hat: den sogenannten Nettolohnskandal. Mit verwirrenden Zahlen, aber richtiger Stoßrichtung hat nun auch die Bild-Zeitung erkannt, dass die Reallöhne der Beschäftigten in den letzten 20 Jahren kaum gestiegen sind. Aber woran liegt das? Schnell setzte sich der Eindruck fest, dass nur der Staat schuld sein kann, der mit Steuern und Sozialabgaben seine Bürger schröpft. Das ist nicht ganz falsch, schließlich wurde die Wiedervereinigung vor allem über die Sozialkassen finanziert. Aber der zentrale Zusammenhang wurde lieber übersehen, obwohl er schlichter nicht sein könnte: Die Nettoreallöhne stagnierten weitgehend, weil auch die Bruttolöhne nur bescheiden ausfielen. Das ist übrigens kein Naturgesetz. In unseren westeuropäischen Nachbarländern sind die Gehälter viel stärker gestiegen, ohne dass die Wirtschaft gelitten hätte.

Die deutschen Gewerkschaften schwächeln nun schon seit Jahrzehnten – und längst ist das für die meisten am Gehaltszettel abzulesen. Es ist vielleicht nicht chic, in eine Gewerkschaft einzutreten. Aber schlau.