: Übertriebene Identifikation mit der Ordnung –betr.: Doppelstaatsbürgerschaft
[...] Nicht erst durch die weiter im Ansteigen befindlichen Anschläge auf Ausländer und Asylbewerber, sondern vor allen Dingen durch die jetzt von Teilen der CDU und CSU initiierten Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpaß für ausländische Mitbürger wird es ganz deutlich: Die Deutschen sind von einer multikulturellen Gesellschaft noch weit entfernt! Irrationale Ängste, fehlendes Selbstbewußtsein und kollektiver Mangel an Zivilcourage können in Kürze zu einer bedrohlichen Situation in unserem Lande werden. Schon jetzt entstehen vielerorts „Nebenkriegsschauplätze“, wo sich die nackte rechte Gewalt nicht nur auf der Straße, sondern auch auf Fußballplätzen brutal entlädt. Es kann nicht sein, daß ein ganzes Volk vor Feiglingen kuscht, die sich grundsätzlich nur an Schwächeren oder Minderheiten vergreifen, wobei die Feigheit der Masse zur Stärke der Gewalttäter wird. Hier sind weitsichtige Politiker gefordert, die dieser Entwicklung konsequent und entschieden entgegenwirken. [...]
„Die Deutschen liebten die Ordnung mehr als die Gerechtigkeit“, sagte einmal der alte Goethe. Diese übertriebene Identifikation mit der Ordnung, „koste es, was es wolle“, hat Tradition in Deutschland und ist leider immer noch lebendig. Das merkt man vor allen Dingen an der zum Teil doch recht emotional geführten Debatte um die doppelte Staatsbürgeschaft. Noch immer spukt in vielen Köpfen das sogenannte Rasse-Prinzip herum, wonach nur die Abstammung das „Deutschsein“ bestimmt. Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen aber, daß es auch anders geht, und so ist beispielsweise nach dem Territorialprinzip das Land der Geburt maßgeblich für die Erteilung der Staatsbürgerschaft. Warum ist also eine solche Regelung nicht auch möglich in unserem Land, wo wir doch ohnehin einen gemeinsamen europäischen Staat anstreben?
Man fragt sich ohnehin, wenn man die hitzigen Debatten auch im eigenen persönlichen Umfeld aufmerksam betrachtet, wieso sich bei vielen Bekannten, Verwandten oder auch Arbeitskollegen unterschwellig immer mehr neofaschistisches Gedankengut verbreitet? Wie ist eine solche Entwicklung nur möglich, wo doch gerade wir Deutschen als „Weltmeister im Verreisen“ gelten? Nun, der überwiegende Teil der deutschen Urlauber reist im Pauschalarrangement in sogenannte Urlaubsghettos ins Ausland, das heißt, er kommt mit den Menschen und der Kultur des fremden Landes gar nicht in Berührung, und oft hat er auch überhaupt kein Interesse daran! Schließlich lebt der deutsche Pauschaltourist in der Überzeugung, daß er sich – wenigstens einmal im Jahr – mit Geld alles erkaufen und leisten kann: ob es nun das deutsche Bier ist, das er auf Mallorca wie selbstverständlich verlangt, oder aber auch die Tatsache der eigenen Selbstüberschätzung, die nicht selten mit der Erniedrigung der Einheimischen einhergeht. Dies ist nur ein Indiz für die Fremdenfeindlichkeit in unserem eigenen Land.
Mit der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und der Integration unserer ausländischen Mitbürger, die von der CDU/CSU in den letzten Jahren regelrecht verschlafen wurde, geht die neue Regierung den richtigen Weg. Und so wünsche ich mir, daß viele Prominente dem Beispiel von Boris Becker, Marius Müller-Westernhagen und Thomas Gottschalk folgen werden, um diese Politik der Vernunft zu unterstützen. Der Doppelpaß ist ein erster Schritt, um entsprechende Zeichen zu setzen, damit sich auch Pogromnächte wie in Rostock, Solingen und Lübeck nicht wiederholen. [...] Thomas Henschke, Berlin
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