Über die Emanzipation des Arbeitens: Du schaffst das!

Die Emanzipation des Arbeitens ist bisher eindeutig zu kurz gekommen. In der bestehenden Kultur werden wir in Arbeit unfrei gehalten. Das lässt sich ändern.

Foto: Alina Günter

Von WOLF LOTTER

1 Eigentumsfragen

Früher, als wir noch ganz klein waren und uns öfter mal verlaufen haben am Spielplatz oder rund um die Häuser, in denen unsere Eltern uns in kleinen Wohnungen großzogen, ganz früher also gab es Menschen, die sich um ganz kleine Menschen kümmerten. Guckte man ein wenig verzagt und waren die Eltern außer Sichtweite, kamen die Kümmerer vorsichtig näher und fragten nicht einfach, »wie heißt du denn – und wo wohnst du?«, sondern mit fester Stimme: »Na, wem gehörst du denn?«

Und? Wem gehörst du?

Ja, gute Frage eigentlich. Wem gehören wir?

Die meiste Zeit unseres Lebens nicht uns, so viel steht fest. Mit der industriellen Revolution wurde zwar nicht die abhängige Arbeit erfunden, die gab es immer schon und noch eine Spur brutaler, aber etwas anderes eingeführt: Arbeit als zentrale und wichtigste menschliche Aktivität, als einzig anständiger Lebenszweck und Mittelpunkt allen Strebens.

Wir sind zu einer »Arbeitsgesellschaft geworden, die sich auf nichts anderes versteht als Arbeit«, wie Hannah Arendt es auf den Punkt brachte. Die Vita aktivieren andere. Das Land, das System, in dem wir leben, ist vollständig auf die industrielle Vollerwerbsarbeit ausgerichtet. Wir haben uns einer Vorstellung von Routine ausgeliefert, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. Unsere Normalität ist nicht normal.

Arbeit ist das Zentrum der Kultur, der Politik, des Denkens.

Die Religion stellte stets der Sehnsucht nach Selbstbestimmung das Schicksal und die Vorsehung entgegen. Aber so berechenbar wie im Industriezeitalter, wo man von der Wiege bis zur Bahre – vom Kindergarten bis zum Renteneintritt und darüber hinaus – einen höheren Arbeitsplan vorfand, den man Leben nannte, war keine Epoche. Kriege und Katastrophen mochten über Kontinente kommen. Aber an der Arbeitsordnung herrscht kein Zweifel. Man gehört dem Chef, der Firma, der Arbeit. Als Rabatt für die Unterwerfung gab es mit der Zeit Trostpflaster, ein wenig Urlaub und Feierabend, für privilegierte Abhängige auch mal ein Sabbatical, in dem sie von der Freiheit träumen durften, vor der sie sich im wirklichen Leben fürchteten. All das muss natürlich wieder eingearbeitet werden. Die Arbeitsverdichtung nimmt in dem Maße zu, in dem ein paar scheinbare Freiräume gewährt werden.

Je mehr wir uns einengen lassen, desto weniger Freiräume gibt es. Was die ersten 68er noch wussten, bevor sie sich verbeamten ließen, haben ihre Nachfahren vergessen, nein, verdrängt.

Mit dem materiellen Wohlstand, den die Industrie schaffte, wuchs die Sehnsucht nach Freiraum zwar, aber es langte nicht, sich für sie zu bemühen, sich für sie anzustrengen. Diese Anstrengung bedeutet nicht malochen, fleißig sein, wie die Industriegesellschaft uns das auftrug, sondern zu denken, auszuprobieren, nach Wegen zu suchen, selbstbestimmt UND sicher zu leben. Work-Life- Balance ist keine Lösung. Wäre Arbeit etwas, was mit den Einzelnen wirklich zu tun hat, etwas, was man nicht als Last und Notwendigkeit sieht, dann wären alberne Begriffe wie Work-Life-Balance nicht nötig. Man braucht die nur, wenn man sich vorm Montag fürchtet – so wie Sabbaticals und all die kleinen Verhübschungen des Alltags, die heute wenigstens denen offenstehen, die am Arbeitsmarkt grade nachgefragt sind.

Die Unsicherheit ist der wichtigste Verbündete der alten abhängigen Lohnarbeit. Dieses Gefühl ist tief in der Kultur verankert. Du schaffst es nicht allein. Du bist nicht gut genug. Du bist nicht stark genug. Das System ist stärker als du. So spricht das System der alten Arbeit zu uns. Es züchtet kleine, unmündige Kinder, die sich, wenn sie auf ihren eingezäunten Spielplätzen auch nur einen Augenblick sehnsüchtig nach draußen blicken, sofort erschrecken – »Buh!« – »Wem gehörst du denn?« –, und dann schlottert das Kind vor Angst und fügt sich, duckt sich, unterwirft sich – aber nie den eigenen Bedürfnissen und Interessen.

2 Wissensarbeit

All das ist anachronistisch, funktioniert immer seltener. Zwar haben die Krisen viele Leute noch ängstlicher gemacht, andere aber, und nicht zu wenige, selbstbewusster, weil sie gemerkt haben oder darin bestätigt wurden, dass sie ihre Arbeit ohne die ganzen ritualisierten Kontrollmechanismen in den Büros auch leichter hinkriegen. Das ist ein entscheidender Schritt in der Transformation. Die Zweifel sind gesät. Die Krisen werden zu dem, was ihr ursprünglicher Wortsinn war: Wendepunkte.

Wir leben in einer Wissensgesellschaft, was ja nichts weiter bedeutet, als dass die Wissensarbeitenden »über ihre Arbeit mehr wissen als ihr Chef«, wie es der famose Managementversteher (und -kritiker) Peter Drucker nannte. So einfach ist das. Die Arbeitsteiligkeit, die beste Idee, die die Moderne in ökonomischer Hinsicht jemals hatte, führt jeden Tag mehr dazu, dass die wichtigste Waffe aller Unterdrückung, das Herrschaftswissen, an Kraft verliert. Doch wissen das die neuen Wissenden eigentlich? Zum Wissen, was man weiß, gehört ja immer auch die Fähigkeit, damit souverän und unabhängig umzugehen. Es ist nicht wichtig, was die Firma weiß. Das Kapital des 21. Jahrhunderts sitzt auf unseren Schultern.

Wissensarbeit ist in erster Linie Selbstbestimmung, Arbeiten in Freiräumen, die nicht nur gewährt werden von oben, sondern selbst gestaltet. Die Wissensarbeitenden wissen nicht nur mehr als ihr Chef, sie können das, was sie wissen, auch besser organisieren. Die vier Millionen Selbstständigen gehören in Deutschland dazu, fast zehn Prozent der Beschäftigten, ignoriert von Parteien und Lobbys.

Immer mehr Menschen finden sich selbstständig in Netzwerken zusammen, weitgehend ignoriert von der Politik der Vollerwerbsparteien und ihrer Institutionen. Die 68er und ihre Erben müssten sich eigentlich freuen, denn was wäre denn ihre ganze Revolution gewesen ohne die Sehnsucht nach Freiraum, Selbstbestimmung, Autonomie vom alten System? War es nicht gerade das enge Korsett der Arbeit und ihrer Umstände, die die Jugendbewegungen ins Laufen brachte, der Druck darauf, mitmachen zu müssen? Wann habt ihr das vergessen, wo habt ihr das gelassen?

Netzwerke funktionieren wie Genossenschaften. Ein gemeinsames Ziel verbindet die einzelnen Mitglieder, die aber nicht in der engen Klammer einer Organisation stecken, der sie (an-)gehören. Wichtig ist die Mehrzahl: Netzwerke heißt, dass nicht ein »Arbeitgeber« da ist, sondern viele Partner. Das ist so wie in einem Unternehmen auch.

All das also, was dem Gutshof und Fabrikdirektor und den aus ihnen abgeleiteten Managern nie gefallen hat: Dass die Leute nicht nur wissen, was sie tun, sondern auch noch tun, wie sie es für richtig halten – und sich auch noch aussuchen, wo sie das machen. Menschen, die schwere Verbrechen begehen, steckt man ins Gefängnis. Dort sperrt man sie ein. Das heißt, man nimmt ihnen ihre Mobilität, ihr Recht auf Bewegungsfreiheit. Was ist eine Präsenzpflicht?

3 Remote Evolution

Weit mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden in deutschen Organisationen wollen nach den Corona-Erfahrungen wenigstens regelmäßig auch von »zu Hause« aus oder dem eigenen Büro arbeiten. Das ist auch gut so. Ökologisch ist Remote, wie man es nennt, sowieso viel klüger als blöd im Stau stehen. Und man lernt ganz hervorragend, mit anderen sehr auf den Punkt zusammenzuarbeiten. Aktuelle Studien aus anderen OECD-Staaten zeigen, dass es gerade die gut ausgebildeten und auf den Arbeitsmärkten stark nachgefragten Menschen sind, die sich nicht mehr ins kontrollierte Büro einfügen wollen. Sie verlangen selbstständige Arbeit, und die Zahl der »fully remoted Companies«, also der Unternehmen, deren Mitarbeiter nahezu vollständig NICHT vor Ort arbeiten, sondern wo es ihnen passt, nehmen rapide zu.

Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, macht Hubertus Heils Arbeitsministerium erst gleich gar keine Umfrage dazu. Damit steigt auch die Expertise, wie man miteinander umgeht, wenn man teils in, teils außerhalb der klassischen Strukturen arbeitet. Ein Manager-Totschlagargument ist ja, dass sich »das Soziale« in der Remote-Beziehung beschädigen würde. Das ist falsch. Nicht das Soziale wird beschädigt, sondern der Kontrollmechanismus des alten Managements, jener Jonny Controlettis, die ihr Fußvolk, ihre Abhängigen, bei sich brauchen, damit sie »buh!« machen können – und die derart Verschreckten nicht vergessen, wem sie gehören.

Wer den Vergleich mit der Präsenzpflicht im Gefängnis weiter oben für eine Polemik hält, hat seine Hausaufgaben in Sozialgeschichte nicht gemacht.

Die ersten englischen Industriekapitalisten kannten zwar das Wort Manager noch nicht, aber deren Funktion. Deshalb rekrutierten sie ihr Personal auch unter Gefängnisdirektoren und den Aufsehern von Arbeitslagern, die sich mit dem Absolutismus und dem modernen Staat verbreitet hatten.

Der Begriff Manager ist der Manege entlehnt, jenes Bereichs eines Zirkus, in dem wilde Tiere mittels Peitsche und Belohnungshäppchen gefügig gemacht werden. Der wohl einflussreichste Managementtheoretiker, der Franzose Henri Fayol, entwarf 1916 ein Bild des Managers als Autorität, die Kontrolle, aber auch Gleichheit unter den Beschäftigten herstellen muss, eine Gleichheit freilich, die nicht den unterschiedlichen Menschen gerecht wird, sondern sie passend macht. Das ist der Geist der alten kollektivistischen Massengesellschaft. Fayol entwickelt eine bis heute bewusst oder unbewusst nahezu im gesamten Management praktizierte Kommandokultur, die sich an militärischen Dienstgraden ausrichtete. Dabei geht es darum, jede Regung von Selbstbestimmung und Abweichung sofort in den Griff zu kriegen. Wo Unruhe unterm Personal herrscht, zumal in Zeiten, wo qualifizierte Leute knapp sind, wird ihnen gut zugeredet, ist auch mal ein Sabbatical drin, man redet von Agilität und »Purpose«, also Sinn, und es gibt ein paar Wohlfühlseminare. Das ist ein Trick, von dem sich viele täuschen lassen. Die Sklaven dürfen auf dem Baumwollfeld ein lustiges Liedchen singen, das regt die Sklavenhalter nicht auf, sondern steigert mitunter noch die Produktivität. Warum also nicht ein wenig Businesstheater veranstalten?

Es ist eine Farce, in jeder Hinsicht. Nicht nur die Mitarbeitenden werden getäuscht, sondern die Gutsherren täuschen sich selbst.

4 Wacher Kapitalismus

Der Kapitalismus schläft – im Gegensatz zum Gros des deutschen Managements und der politischen Parteien – nicht. Er ist weiter als die, die ihn scheinbar verteidigen.

Wissensarbeit, also die Tätigkeiten, die Innovationen und eigenständige Denkarbeit verlangen statt routinierter Maloche in Fabrik oder Büro, ist mit einem ängstlichen, ohne Selbstbewusstsein ausgestatteten Personal nicht zu machen. Personal, das Anweisungen braucht, ist nicht mehr zu gebrauchen. Es füllt nur mehr die Büros, bis sie durch Maschinen ersetzt sind.

Das alte Argument, es könnten nicht alle selbstständig arbeiten, war schon auf den Gutshöfen falsch und zynisch. Denn die, die es benutzen, heute die Industriearbeitsvolksparteien und die alten Lobbys, könnten statt professioneller Kümmerei ja auch eine seit Jahrzehnten verzögerte Reform der Renten- und Sozialkassen anpacken, bei der es um Grundeinkommen für alle gehen müsste, eine gleiche Basis, die Sicherheit bietet, auch, um sich in der postindustriellen Welt zurechtzufinden. Dazu ist das Grundeinkommen da – und auch das von Ralf Fücks gedachte Bildungsgrundeinkommen, bei dem Menschen fürs Um- und Weiterlernen bezahlt werden.

Routinearbeit stirbt aus, das zeigen längst nicht nur Studien wie jene wohl bekannteste von Carl Benedikt Frey und Michael Osborne von 2013. Darin wurde die sogenannte Automatisierungswahrscheinlichkeit von Berufen erforscht, sie liegt im OECD-Schnitt zwischen 40 und 50 Prozent. In Deutschland haben Forscher des ZEW diese Studien bestätigt. Routine, das können Maschinen, Roboter und Algorithmen besser.

Parteien und alte Gewerkschaften, die Selbstständigkeit fürchten wie digitale Automation, statt mit diesen Elementen konstruktiv zu arbeiten, haben keine Idee außer der endlosen künstlichen Verlängerung industrieller Arbeit nach dem Modell der Kohlekumpels, deren schmutzige, gefährliche, ökologisch unterirdische Arbeit seit den 1950er-Jahren mit vielen Milliarden Euro pro Jahr gefördert wird. Eine fürsorgliche Politik würde die Transformation nicht allein der Energie- und Mobilitätspolitik, sondern vor allen die Arbeit in den Fokus nehmen.

Die Große Transformation von der Industrie in die Wissensgesellschaft ist das, was schon die vom Gutshof zur Fabrik war: Eine Bildungsfrage. Dabei geht es nun nicht darum, mehr Akademiker zur »produzieren«. Es geht um selbstbewusste Leute, die keine Angst vor Veränderung haben und die gleichzeitig nicht auf soziale Grundlagen und Sicherheiten verzichten wollen. Dass es dabei ein Entweder-oder gibt, behaupten vor allen Dingen die alten Volksparteien, allen voran die Sozialdemokraten, deren kulturelle Existenz untrennbar mit der Industriearbeit verbunden ist. Die Sozialdemokratie ist die Zentralagentur der alten Arbeit und des dazugehörigen Sozialsystems, in dem Entwicklung und Ausstieg ebenso bestraft werden wie unverschuldete Arbeitslosigkeit. Die Erfinder von Hartz IV verteidigen mit der alten Arbeitsordnung auch ihre eigenen, überkommenen Privilegien. Doch diese Macht ist schwach, vielfach angeschlagen und steht vor der Wand der eigenen Versäumnisse und der eigenen Ignoranz.

Auch in den ihnen nahestehenden Gewerkschaften werden Reformen hin zur selbstbestimmten Wissensarbeit sträflich und seit langer Zeit vernachlässigt. Statt beispielsweise mit den vier Millionen Selbstständigen in Deutschland zu reden und mit ihnen ein besseres Sozialsystem zu gestalten, das gerecht ist, grenzt man sie aus. Wissensarbeit gilt sowieso als dubios. Dabei gesteht man sich intern schon ein, dass das nicht mehr lange funktionieren wird. In einem Report aus ihrer Amtszeit als Arbeitsministerin hielt die DGB-nahe SPD-Vorfrau Andrea Nahles fest, dass es für die neuen Welt der Netzwerke und Wissensarbeit grundlegend andere Regeln brauche als für die alte Normalarbeit. Sie wissen es also. Sie wissen, dass es neue Regeln braucht, auch Arbeitsrecht, ein faireres als bisher, dass nicht defensiv ist, sondern Selbstermächtigung an die Stelle von Gefälligkeiten rückt. Ein Sozialrecht für alle selbstständigen und selbstbestimmten Wissensarbeitenden ist kein Problem. An Unwissenheit scheitert es also nicht. Aber die Angst hat die Seiten gewechselt.

Wer allerdings in der Transformation vornehmlich den Verlust von eigener Deutungsmacht erkennt, der hat diese schon verloren. Solche Leute gehören nicht sich selbst, sondern einer Vergangenheit, die sich längst aus dem Staub gemacht hat.

Die Aufklärung, der Aufbruch zur Selbstbestimmung und Emanzipation, sie war kein Betriebsunfall, auch wenn die wechselnden Machthaber das immer so hinstellen wollen. Die Aufklärung brach aus, weil einige wenige ausreichend viel Bildung hatten und materielle Mittel und damit also Freiräume, um den Eigentumsansprüchen der Machthaber etwas entgegenzusetzen. Wir gehören euch nicht. Die Aufklärung gibt auf die Frage »Wem gehörst du denn?« eine laute und deutliche Antwort: »Mir natürlich, du Penner!«

Also an die Arbeit!

WOLF LOTTER ist Autor, Essayist, Gründungsmitglied von brand eins und war dort mehr als 20 Jahre lang Leitessayist. Er schreibt Bücher, etwa über Diversität, Unterschiede. Wie Vielfalt für mehr Gerechtigkeit sorgt oder Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (beide Edition Körber. In diesem Herbst erscheint sein Podcast Trafostation (Haufe). Er ist Mitglied des PEN-Berlin.

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.

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