UKRAINE: JUSCHTSCHENKO MUSS SEINEM WAHLSIEG TATEN FOLGEN LASSEN : Held auf Bewährung
Zweifellos ist der Sieg von Wiktor Juschtschenko bei der Neuauflage der Präsidentenwahlen ein Sieg für die Demokratie in der Ukraine. Er ist es deshalb, weil diesmal – glaubt man bisherigen Informationen – Fälschungen in großem Umfang ausgeblieben sind. Das ist schon viel für ein Land, in dem massiver Wahlbetrug, die Einschüchterung von Wählern sowie die einseitige Bevorzugung der vom Staat protegierten Kandidaten bislang zu Wahlen gehörten wie die Abgabe des Stimmzettels.
Dennoch sollten sich die Protagonisten der orangefarbenen Revolution und die hunderttausenden von Menschen, die mit ihren wochenlangen Protesten die Wiederholung der Stichwahl überhaupt erst erzwungen haben, nicht zu früh freuen: Ihr Aufstand, der sich vor allem gegen die verkrusteten Strukturen des Kutschma-Systems richtete, hat noch längst nicht gesiegt. Deshalb gilt es jetzt, Juschtschenko, der vollmundig von der wiedergewonnen Freiheit und einer Zäsur in der ukrainischen Geschichte spricht, beim Wort zu nehmen und an seinen eigenen Versprechen zu messen. Das bedeutet in letzter Konsequenz vor allem eins: keine faulen, unnötigen Kompromisse mehr mit den Vertretern der alten Macht. Sondern ein radikaler, nicht zuletzt personeller Neuanfang.
Die folgenden Monate werden zeigen, ob Wiktor Juschtschenko fähig und willens ist, das Projekt „neue Ukraine“ in Angriff zu nehmen. Dabei dürfte er klug genug sein, zu wissen, welcher Erwartungsdruck der erwachten ukrainischen Zivilgesellschaft jetzt auf ihm lastet. Schon einmal hat er die Menschen verraten, die 2002 gegen Kutschma auf die Straße gingen und vom neuen Präsidenten verächtlich als Faschisten tituliert wurden.
Auch den so genannten Kompromiss über eine Änderung der Verfassung, die nicht zuletzt Kutschma um jeden Preis durchsetzen will, haben viele Ukrainer nicht nachvollziehen können. Mit ihrem Votum vom vergangenen Sonntag haben sie jedoch gezeigt, dass sie Juschtschenko eine zweite Chance geben wollen. Er sollte sie nutzen. Sonst könnte es sein, dass die Revolution ganz schnell ihren Helden frisst. BARBARA OERTEL