TROTZ NEOCALVINISTISCHER AFFEKTKONTROLLE BLEIBT IMMER EIN UNBOTMÄSSIGER REST, DER IRGENDWOHIN ABFLIESSEN MUSS : Übermut und Tristesse
VON ARAM LINTZEL
Seit der Krise sind Gier und Größenwahn so etwas wie geächtete Affekte. Der mit moralischen Untertönen angereicherte Gegenaufruf zum Maßhalten widerspricht sich allerdings oft selbst, fordert er doch gleich die Kontrolle all unserer Affekte, womit er über das eigentliche Ziel – die Kontrolle der Finanzmärkte – alles andere als maßvoll hinausschießt. Folgerichtig fing denn auch der Loha-Diskurs erst im Windschatten der Krise so richtig zu wuchern an, zum Jahreswechsel häuften sich in den Zeitungsbeilagen die Tipps und Tricks für eine nachhaltige Existenzweise. Ungebeten werden wir gefragt: Hast du deine Leidenschaften im Griff und lebst du ein genügsames Leben?
Weil aber offensichtlich niemand so genau erklären kann, was denn das Gebaren der Finanzspekulanten mit der eigenen Lebensführung zu tun haben sollte, scheint die Praxis des Über-die-Stränge-Schlagens inzwischen wieder an Ansehen zu gewinnen. Letzte Woche landete ich bei einer „Geschlossene Gesellschaft“ genannten neuen Veranstaltungsreihe im Roten Salon der Berliner Volksbühne, wo vor prallvollem Haus über das Thema „Größenwahn“ diskutiert wurde. Anhand historischer Größenwahnfiguren wie Kapitän Ahab, Nietzsche und Fitzcarraldo wollte man den in Zeiten der Krise verfemten Begriff offenbar ins Positive wenden.
Über Lafontaine sprachen die jungen Intellektuellen allerdings nicht. Indes hätte das der Runde gegenwartsdiagnostischen Appeal verschafft. Denn dass Lafontaines krankheitsbedingter Abschied aus der Berliner Republik über ideologische Grenzen hinweg bedauert wurde, kann als Ausdruck einer Sehnsucht nach der Affektproduktion eines political animal gelesen werden. Wer Lafontaines „Politik für alle“ gelesen oder seine programmatischeren Reden verfolgt hat, weiß, dass sich da jemand mit dem Kapitalismus im Allgemeinen und den „oberen Zehntausend“ (O-Ton) im Besonderen anlegte. Als Politiker war Lafontaine einer, der noch in postheroischen Zeiten mit seinem Populismus „für alle“ ein vages „Mehr“ jenseits des Pragmatismus aufblitzen lassen konnte.
Der aktuelle Zustand der Linkspartei irgendwo zwischen Übermut und Tristesse könnte aber auch eine im Roten Salon aufgebrachte Pathos-These bestätigen: Der – meist männliche – Größenwahnsinnige ist dank seiner Disziplin schöpferisch, selbst dann, wenn er scheitert und, im konkreten Fall, zurückmuss in die „verzwergte Politik im Saarland“ (so der Lafontaine-Interviewer letzte Woche im Stern).
Und selbst in konservativen Kreisen wird neuerdings gierig mehr und Größeres gewollt, das spürt man nicht erst seit Sloterdijks Polemik gegen fiskalischen Kleinkram. In der Zeit beschwerte sich neulich ein Kulturkonservativer wie Florian Illies: „So wenig Zorn war nie.“ In einer Übersprungsargumentation rief er sogleich die jungen Kulturschaffenden der Republik zum Vatermord auf. Vor ein paar Monaten hatte Illies noch Christian Thielemann servil umschwärmt, nun aber soll endlich wieder aufbegehrt werden. Wenn es allzu gezügelt zugeht, muss der bürgerlichen Kultur neue, unkontrollierte Wutenergie zugeführt werden. Ob Illies aber wirklich die Überschreitung des rechten Maßes im Sinn hatte? In der Feuilletonwelt bleibt am Ende doch klar geregelt, welche Über-Ichs vom Sockel gekippt werden dürfen und welche nicht.
Dass sich die im Zuge der Krise wieder attraktiv erscheinende neocalvinistische Affektkontrolle nachhaltig durchsetzen könnte, ist womöglich aus ganz anderen, strukturellen Gründen unwahrscheinlich. Mit Georges Bataille darf man daran erinnern, dass jede Gesellschaft immer mehr produziert, als zu ihrer Erhaltung notwendig ist. Der Gebrauch, den sie von diesem Überschuss macht, macht sie zu genau der Gesellschaft, die sie ist. Bataille nannte dies „das allgemeine Gesetz der Ökonomie“. Sprich: Selbst wenn wir alle zu innerweltlichen Asketen der Nachhaltigkeit würden, bliebe ein unbotmäßiger Rest übrig. Mit dem muss dann irgendwas geschehen, irgendwohin muss der abfließen, und das kann dann eben auch zu ganz unnachhaltigen Gierexzessen führen. Und überhaupt: Der zeitgenössische Kapitalismus würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn er uns wirklich zu fleißigen Lustskeptikern regredieren ließe. Schließlich ist die biopolitische Wertschöpfung darauf angewiesen, dass man sich der Arbeit mit allen zur Verfügung stehenden Leidenschaften hingibt.
■ Aram Lintzel ist Publizist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion in Berlin Foto: M. Thomann