TROPFENDES LICHT : Traurige Nacht
Vor ein paar Tagen habe ich tatsächlich den Weihnachtsmann getroffen. Er arbeitet auf einem Gerüst in der Grimmstraße. Ich bin mit dem Fahrrad vorbeigefahren und er hat mit seinen Kollegen am Fuße des Gerüsts gestanden und geplaudert. Nicht aber über das bevorstehende Fest und den Einkaufsstress, wie ich das gedacht hätte, sondern über unfreundliche Lastwagenfahrer: „Schwanzlutscher“, ruft der Lastwagenfahrer aus seinem runtergekurbelten Fenster, als er an dem Gerüst mit dem Weihnachtsmann vorbeifährt. „Dit hätt er auch freundlicher sagen können, der Alte“, sagt der Weihnachtsmann.
Er nuschelt ein bisschen. Eine halb abgebrannte Zigarette hängt aus seinem Mundwinkel und sein wallender weißer Weihnachtsmannbart ist rund um den Mund nikotingelb. „Is ja so“, sagt der Weihnachtsmann. Seine Kollegen nicken. „Ich versuch, immer freundlich zu sein, auch wenn ich scheiße drauf bin“, sagt er. Der Weihnachtsmann kann also auch scheiße drauf sein, denke ich voller Erstaunen und fahre weiter.
Vor dem Spielkasino am Herrmannplatz sind die Bäume mit einem Lichterspiel geschmückt, das ich noch nie vorher gesehen habe. Ich kenne Lichterketten, pulsierende Sterne und blinkende Weihnachtsmänner. Aber bis jetzt kannte ich noch nicht die Tränen der Heiligen Nacht. So sieht die Lichterdeko nämlich aus: In den Bäumen vor dem Spielkasino hängen Lichterketten, die wie runtertropfende Tränen aussehen. Weinende Bäume vor einem hässlich überbeleuchteten Spielkasino. Weinen die Bäume für die Menschen, die im Spielkasino ihr Geld verlieren? Oder weinen sie, weil die Menschen da überhaupt reingehen? Warum weinen die Bäume? Das lässt mir keine Ruhe. Wahrscheinlich sollen die tropfenden Tränen schmelzenden Schnee darstellen, aber schmelzender Schnee ist doch eher traurig, oder? MAREIKE BARMEYER