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Archiv-Artikel

TJA, FREIMARKT (5): KALLE BUKOWSKI Jugenderinnerungen

Einmal im Jahr ist Freimarkt – aber muss man darüber schreiben? Kommt auf die Perspektive an, beweist die taz.bremen-Serie.

Wir gingen hin. Wir gingen jeden Tag hin. Wir zogen schon am Mittag los, vor Beginn des Freimarkts, wir klapperten die ganze Bürgerweide ab, sahen in die noch leeren Buden rein, wo die Schaustellerinnen saßen, die Röcke bis über die Knie hoch, und mit den Beinen wippten in der warmen Herbstsonne. Die Girls sahen gut aus.

Nach unserem Bummel gingen wir in die Pommesbude; dort holte sich jeder einen Hotdog für einen Euro und ein großes Bier für zwei. Dann machte der Hau den Lukas auf und wir bauten uns auf und unsere Muskeln standen heraus, und wir hatten immer unsere Hemdsärmel hochgekrempelt und jeder hatte eine Packung Zigaretten in der Brusttasche.

Mit Hotdogs und Bierpullen begaben wir uns dann zum Stardust, drei Minuten Autoscooter kosteten zwei Euro. Wir hatten nicht genug, keiner unserer Väter hatte Arbeit. Wie wir zu unserem bisschen Taschengeld kamen, war ein Mysterium, wenn man davon absieht, dass wir ein gutes Auge hatten für alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Ich schlug mich immer mit einem Kerl, der später ein hohes Tier bei der Bundeswehr wurde. Eines Tages kämpfte ich mit ihm von mittags bis nach Sonnenuntergang. Niemand ging dazwischen, obwohl sich das Ganze direkt vorm Stardust abspielte, unter zwei riesigen Laternen, von denen die Tauben den ganzen Tag lang auf uns runterschissen. Er war größer als ich, ein bisschen älter und stärker, aber ich hatte die größere Wut im Bauch. Schließlich hörten wir in gegenseitigem Vernehmen auf. Am nächsten Tag hatte ich am ganzen Körper blaue Flecken und meine Lippen waren so verquollen, dass ich nicht mehr reden konnte. Aber ich ging trotzdem auch an diesem Tag zum Freimarkt.

Zwei abgerissene Penner, die nach Wermut rochen, schlurften an den Buden entlang, jeder mit einem Strauß Luftballons in der Hand. Ich sah nie, dass sie auch nur einen einzigen verkauften. Aber ich vermute, wenn man so einen gegen das Licht hielt, dann sah man das Bild von Hello Kitty oder Michael Jackson.

Im Hansezelt standen die Tänzerinnen in einer Reihe auf der Bühne, zum größten Teil alt gewordene ehemalige Stripperinnen mit falschen Wimpern, dick aufgetragenem Augen-Make-up, Rouge und Lippenstift. Sie brachen sich redlich einen ab, um das Tempo der Musik mitzuhalten, doch sie hingen immer ein bisschen zurück. Ich fand, dass sie sich sehr tapfer schlugen. Dann trat der Sänger auf. Den Sänger zu mögen, fiel einem sehr schwer. Er sang, viel zu laut, von enttäuschter Liebe. Er hatte keine Ahnung vom Singen, und wenn er fertig war, breitete er jedes Mal die Arme aus und verbeugte sich vor einem Publikum, in dem kaum jemand eine Hand rührte. Einen Tag ging ein Girl vor der Bühne an ihm vorbei, und er folgte ihr mit den Augen und sagte zum Publikum: „Na, da leck mich doch am Ärmel!“ Das war das einzige Mal, dass alle johlten und klatschten.