TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Reflexionen auf Rezeptzetteln
Seit Januar gibt es das „Institut für Solidarische Moderne“. Es gelte als Vordenkerin eines rot-rot-grünen Regierungsprojektes unter Beteiligung radikaler Linker und stelle eine Provokation dar, las ich in der Zeitschrift analyse & kritik. Seit wann bedeutet Radikalsein, eine Regierungskoalition vorzudenken?
Solche Institutionalisierungen werden fast immer darüber legitimiert, dass linke Geschichte durch die biografische Brille erzählt wird. Da spielen Hybris und Aktionismus mit. Individueller Bedeutungsdrang wird gerne als generationeller Pendelschlag interpretiert – nach dem Motto: Die Post-68er-Linke hat sich in subkultureller Bedeutungslosigkeit verloren, sie braucht eine neue Relevanz ohne die Fehler früherer Institutionalisierungen zu wiederholen.
Einer, bei dem man nachlesen könnte, was gegen die Kanalisierung linker Politik in Institutionen spricht, und gleichzeitig der klügste Kopf der 68er, war zweifelsohne Hans-Jürgen Krahl, über den Adorno einst sagte, in ihm hausten die Wölfe. Während sich die marxistische Bildung mancher 68er, die sich bis heute für bedeutend halten, in der Herausgabe von Büchern wie der „Geschichte der O.“ oder in der Übersetzung von Softpornos erschöpfte, hat Krahl avancierte Theorie geschrieben, leider wurde die Herausgabe seiner Reden und Schriften im Verlag Neue Kritik recht lieblos vorgenommen, im Stile eines 60er-Jahre-Raubdrucks, gleichwohl wurden über 18.000 Exemplare des Buchs verkauft. Unter www.digger-journal.net veröffentlichen Helmut Reinicke und Hermann Kocyba nun die verstreuten Manuskripte und Fragmente. Handschriftliche Wartezimmerreflexionen auf einem Rezeptzettel, Typoskripte zur Organisationsfrage oder zu Kant – da wurde ein Projekt gestartet, das unbedingt fortgesetzt werden muss. Und hoffentlich auf editorisches Echo stößt.
■ Die Autorin ist Kulturredakteurin der taz Foto: privat