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Somnamboulevard – Das Zentrum der Aufmerksamkeit Von Micky Remann

Es ist, verglichen mit vorhin, recht dunkel geworden, und deshalb schreibe ich Ihnen, Madame, diesen Bericht mit einem noch offenen und einem bereits geschlossenen Auge, während ich es mir zwischen zwei viergeschossigen Wohnhäusern im oberen Geäst dieses Essigbaumes bequem gemacht habe. Diverse Lichter gehen an, aber die Menschenmenge zu meinen Füßen verzieht sich immer noch nicht.

Wie Sie wissen, war es mir nach unserem Abschied vergönnt, mich aus meiner hemmungsvollen Lage zu befreien, worauf ich nicht zögerte, diesen Platz, der mich auf besondere Weise anlockte, zu beziehen. Dann passierte folgendes: Ich sah, als ob es vor meinem geistigen Auge wäre, obwohl es vor meinem wirklichen geschah, denn die Sonne stand hoch, eine Frau aus dem zweiten Stock drei Herren anweisen, eine alte Waschmaschine die Treppe runterzuschleppen. Dabei wurde ein Blumentopf vom Küchensims gestoßen, er fiel auf den Vorhof und zerschellte.

Gerade als die Scherben aufgekehrt wurden, traten, und das erschrak mich, gleichwohl es mich nicht betraf, zwei Polizisten und ein Herr im Kurzarmhemd auf den Plan und redeten auf die Frau mit den Scherben und die schwitzenden Schlepper mit der Waschmaschine ein. Es stellte sich heraus, daß ein an den Essigbaum getäutes Fahrrad verdächtigt wurde, geklaut zu sein, was der Hemdzivilist mit heftigem Kopfnicken unterstrich.

Das Durcheinander wurde angereichert durch das Hinzukommen eines Herrn aus dem ersten Stock, der ebenfalls behauptete, Besitzer des fraglichen Rads zu sein und diesen Anspruch mit dem Verlesen einer Plakette am vorderen Schutzblech: „Anerkanntes Markenrad, 3 Millionen verkaufte Exemplare – na also!“ untermauerte. Mehr aus Ratlosigkeit denn aus Überzeugung erkannten die Polizisten den Disput auf Unentschieden, was der Sommerhemdler aber mit Mißbehagen registrierte.

Die Versammelten hätten nun getrost ihrer Wege gehen können, wäre ihnen nicht der unverhoffte Auftritt einer Ratte dazwischengekommen, die aus dem Kellerfenster schoß, dicht gefolgt von einer kreischenden, braun-weißen Katze. Als nun alle Anwesenden etwa 30 Zentimeter über dem Boden schwebten, ohne je wieder landen zu wollen, betrat eine westafrikanische Großfamilie den Vorhof. Besonders auffällig die jüngste Tochter, die einen übergroßen goldenen Käfig wie in einer animistischen Prozession vor sich hertrug. Andere Familienmitglieder stimmten Schnalz- und Lockgesänge an, klapperten mit Gegenständen und verwickelten die Gesellschaft unter dem Essigbaum in Gespräche, die ich mich nicht zu verstehen bemühte, und warum sollte ich auch, Madame?

Der Auflauf gewann Festivalcharakter und schwoll im Laufe der Stunden um ein Wesentliches an. Wer einmal dabei war, blieb, nicht zuletzt, um Neuankömmlingen die verwobene Entwicklung der Vorfälle zu erläutern. Es dauerte eine Weile, bis ich dahinterkam, daß der ganze Tumult inzwischen niemand anderem galt als mir, Madame. Was soll ich jetzt tun? Ich stehe hier im Zentrum der Aufmerksamkeit, alle glotzen hoch zu mir, winken und rufen: „Koko, komm, komm, Koko!“

Ich bin halt, wie Sie, ein Papagei, Madame.

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