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Solidarnosc-betr.: "Im Moment ist die Situation abnormal", taz vom 16.9.88

Betr.: „Im Moment ist die Situation abnormal,

taz vom 16.9.88, S. 9

Verzeiht, Ihr Herren Bachmann und Passent, aber warumn ist es denn so falsch, die „verbotene“ (derartige Verbote werden in der „freien Welt“ übrigens weniger lax gehandhabt) Solidarnosc als Agentur des Westens einzuschätzen?

Der Star der westlichen Polen-Berichterstattung, Arbeiterführer Walesa, hat immerhin höchstpersönlich dafür plädiert, Polen solle „ein zweites Japan“ werden (wobei, sollte Polen tatsächlich marktmäßig total auf Linie gebracht werden, wohl eher eine zweite Türkei oder ein zweites Brasilien entstünde). Ferner deckt sich die ausgeprägt antisowjetische Einstellung von Solidarnosc, ihr verspäteter, gegen den Falschen gerichteter Nationalismus, sehr wohl mit der westlichen Politik, die Sowjetunion und die anderen AGW-Staaten möglichst auseinanderzudividieren.

Schließlich ist das von Solidarnosc angestrebte Mehrparteiensystem, dieser als Allheilmittel angebetete Pluralismus, nicht nur das auf die politische Ebene übertragene Prinzip der kapitalistischen Konkurrenz, sondern stellt in seiner ideologischen Überhöhung geradezu den Eckpfeiler westlicher Demokratie-Modelle dar (wie wenig offen und dauerhaft sich in der Praxis westlicher Pluralismus ausnimmt, ist allerdings eine andere Geschichte). Somit erscheint mir Solidarnosc als vom Westen nur beeinflußt - das ist sogar die polnische Regierung selbst, und zwar nicht erst seit gestern -, sondern als eine zentrale politisch-ideologische Agentur des Westens in Polen. Daß diese politische Agentur nicht quasi als Marionettenorganisation extra kreiert werden mußte, sondern durchaus im Volk verwurzelt war, machte sie ja dem Westen gerade so lieb und teuer. Dafür hat sich der Westen sowohl finanziell als auch medienmäßig (nur als Kuriosität sei an die wunderbare Sondersendung mit Reagan, Freiheitskerzen und dem schnell mal zum Nobelpreisträger gekrönten C. Milosz erinnert) doch weiß Gott nicht lumpen lassen. A propos „innenpolitische Liberalisierung“: Solange Daniel Passent noch stellvertretender Chefredakteur der 'Polityka‘, Karl -Heinz Roth aber noch nicht stellvertretender Chefredakteur der 'Zeit‘ ist, geht es in der polnischen Gesellschaft, im polnischen Staat, zumindest auf dem Gebiet des Pressewesens weitaus systemkritischer zu als in der BRD mitsamt unserer heißgeliebten FDGO.

Elisabeth Wagner, Ludwigshafen

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