Sibylle Berg über Verblüfftheitskultur: Mensch am Ende

Woher das Erstaunen kommt, dass der Kapitalismus ohne Wachstumsbegrenzung tödlich für alle ist, die nicht auf schwimmenden Inseln zu überleben versuchen.

Sibylle Berg Foto: Joseph Strauch

Von SIBYLLE BERG

Der sich beschleunigende Zerfall des weltweit konkurrenzlosen Systems überrascht nicht nur uns Deppen,  sondern auch PolitikerInnen sind stets aufs Neue geradezu overwhelmed von dem rasanten Tempo der momentanen Katastrophenereignisse. Ich werde keine Namen und Parteizugehörigkeiten erwähnen, sondern eine zeitgemäß schwammige Betrachtung der politischen Verblüfftheitskultur vornehmen.

Auf Krisen reagieren die Menschen, die ihr Volk mit Ruhe und Zuversicht beruhigen könnten, zunehmend hektisch, perplex, und im besten Fall bitten sie irgendwann um Nachsicht, ob ihrer Überforderung, Menschen halt.

Die vorletzte Katastrophe, deren Auswirkungen die Weltbevölkerung ohne Kapital betrifft, ist der Ukraine-Krieg.

Wie konnte es – scheinbar über Nacht – möglich sein, dass ein vormals enger Handelspartner und friedlicher Autokrat zum Aggressor wurde? Und wie war es nur möglich, dass sich fast Jahrzehnte von – sagen wir – wenig heterogener Energiepolitik zu einem Desaster entwickeln? 2014 warnten Wissenschaftlerinnen des IWE (Institut für Wissenschaft und Ethik) vor einer zu großen Rohstoffabhängigkeit Deutschlands von russischen Importen. Vermutlich lassen sich auch noch andere wissenschaftliche Warnmeldungen aus der Zeit davor finden, aber wir wollen ja nicht zu gründlich werden, denn wir sind in der taz, der Zeitung, die in vergangener Zeit gefühlte 67.262-mal das Wort Boomer im Konzept mit Schuldzuschreibungen an allem verwendet hat.

Die Überraschungshitparade wird von einem vollkommen unerwarteten Ereignis angeführt: dem Klimawandel

Bleiben wir bei der Ukraine. PolitikerInnen, die nicht den Grünen angehören, zeigen sich aktuell erstaunt vom Wandel der Partei von einer Pazifisten- und Antiatompartei zu etwas – nun, sagen wir – Gegenteiligem. Unter Ausschluss der breiten medialen Öffentlichkeit untersuchten dazu Herr Küppersbusch und sein Team auf Küppersbusch TV einen der möglichen Gründe für den Strategiewechsel und fanden LibMod, den Grünen-nahen Thinktank (ich wollte diesen unangenehmen Begriff, der an Menschen gemahnt, die in ihrem eigenen Fruchtwasser floaten, schon immer mal verwenden). Finanziert auch mit Geldern der Allgemeinheit, haben die DenkerInnen und StrategInnen einigen Einfluss auf die Haltung der Partei im Ukraine-Krieg (Waffen und noch mehr Waffen) und den daraus folgenden Konsequenzen (für die Bevölkerung).

Erstaunt zeigen sich die VertreterInnen der Regierungsparteien in den letzten Jahren auch über das Erstarken faschistischer Kräfte in der Bevölkerung. Bei Militär und Polizei – Stichworte Faschisten in Gerichten, in der Polizei, im Militär, Lübcke, Leichensäcke –, überall waren die extrem rechten Positionen in der Zeit gewachsen, als medial vor der extremen Linken gewarnt wurde. Es war, als hätten die PolitikerInnen noch nie in ihrem Leben von Professor Heitmeyer gehört, der seit den 1970er-Jahren vor genau dieser Entwicklung warnt und über Jahrzehnte diverse Gespräche mit allen möglichen Regierenden gehabt hat.

Das Erstaunen hält bis heute an.

Faschisten standen dem Kapitalismus selten im Weg, und so gibt es andere Prioritäten.

Die Bildung zum Beispiel.

Der gerechte Zugang zur Bildung – Bestandteil der Demokratie – wird ausgehöhlt, was das Zeug hält. Und die Folgen werden zumindest billigend in Kauf genommen. Wer hätte auch ahnen können, was durch unzureichendes Geschichtswissen entstehen kann – Faschismus, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit, zum Beispiel. Fällt mir nur unzusammenhängend ein, dass die Märkte keine Demokratien mögen (O-Ton Larry Fink) und Faschismus sich selten negativ auf Kapitalvermehrung ausgewirkt hat. Apropos Märkte und kurzfristige Gewinne: Die Überraschungshitparade wird von einem vollkommen unerwarteten Ereignis angeführt, dem Klimawandel.

Sie hätten so viel wissen können

Vielleicht ist das Geschenk einer späten Geburt Grund dafür, dass sich viele politisch Verantwortliche heute überrascht von den Auswirkungen der Erderwärmung zeigen. Der Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums erschien 1972.

Und die Technologien haben erstaunlicherweise nichts Wesentliches zur Begrenzung der Erderwärmung und deren Folgen beigetragen. Nun muss es die Eigenverantwortung der Bevölkerungen richten, die im Zweifel immer der Pseudoausweg für Menschen scheint, die ihren Job schlampig machen. Vielleicht haben wir Glück. Vermutlich nicht.

Sie hätten so viel wissen können.

Von den Auswirkungen schlechter Kommunikation auf das Vertrauen der WählerInnen. Oder, dass es eine schlechte Idee ist, die Grundversorgung zu privatisieren. Dass Pöbeleien, Vulgarität, Lügen und Betrug in der Politik Einfluss auf die Umgangsformen in der Bevölkerung haben. Und dass es keine gute Idee ist, jeden Quatsch zu digitalisieren, ohne eine Grundkenntnis davon zu haben, was ein RCE-Angriff ist. Aber solange jede Fehlentscheidung, jeder Betrug und alle Wirecard-Affären und Leaks ohne Folgen bleiben, ist das auch egal. Sie werden bleiben, die komplett überraschten PolitikerInnen – denn Tagespolitik ist anstrengend, zäh, langwierig und so weiter.

Das Gehalt, das man kriegt, ein Land zu verwalten, ist unbefriedigend, wenn man es mit den Gehältern der Gurken vergleicht, die einzig Aktionäre befriedigen müssen.

Solange sich das alles nicht ändert, bleiben das große Erstaunen und die Überraschung, dass der Kapitalismus kurzfristig einen Vermögenszuwachs für viele bringt, auf Dauer und ohne Wachstumsbegrenzung aber einfach tödlich für alle ist, die nicht auf schwimmenden Inseln zu überleben versuchen und sich am Ende dem Schicksal fügen und von der eigenen Endlichkeit geradezu überrumpelt von der Erde verschwinden.

SIBYLLE BERG ist Schriftstellerin. Zuletzt erschienen:RCE. #RemoteCodeExecution. KiWi 2022 – 704 Seiten, 26 Euro

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.

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