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Short Stories from AmericaAm Ende eine Folge des Ozonlochs

■ Zeitungsnachrichten liefern nur selten wirkliche Überraschungen. Ganz anders in den vergangenen Wochen

Nur selten bringen die Nachrichten in den Zeitungen eine wirkliche Überraschung. Man hat doch längst gewußt, daß der Kongreß das Gesundheitsgesetz abschmettern würde. Man hat doch damit gerechnet, daß Clinton drei Jahre lang über Haiti schwafelt und die Truppen dann nach Kuwait schickt. Man wundert sich doch nicht, wenn Clinton ständig schwankt, ob er die haitianische Militärjunta angreifen oder mit ihr kungeln soll. Man erwartet sogar, daß die US-Armee in Haiti eine große Razzia nach Waffen veranstaltet, die nicht von der Militärjunta, sondern von Aristide- Anhängern versteckt wurden. Ich überlegte schon, ob ich der Armee ein Fax schicken sollte, daß Aristide der Gute sei, aber ich kam zu spät. Die Kräfte der Demokratie hatten ihre Streitkräfte bereits in ein Waldversteck entsandt – wo sie auf die Tanzgruppe Katherine Dunham trafen. Die Truppe machte dort gerade ihre Übungen, berichtete The New York Times, als die GIs aus den Büschen hüpften und schrien: „Alles hinlegen! Gesicht zur Erde!“ Was die Tänzer elegant befolgten. Später berichtete die Presse, die Armee hätte einen Tip aus Cédras' Militärregierung bekommen. Ich überlegte schon, ob ich der Armee ein Fax schicken sollte, daß das die Bösen sind. Aber ich ließ es bleiben, weil man ja schließlich nichts anderes erwartet hat.

Doch in diesen Wochen waren die Nachrichten voll unvorhergesehener Meldungen... Vielleicht hat das ja was mit dem Ozonloch zu tun. Oder hätte irgend jemand Sekten in der Schweiz vermutet? Es gibt in Amerika einen Witz, wie man in einem Restaurant einen Schweizer erkennt: Er ordnet die Bestecke in rechten Winkeln. (Der Witz ist besser, wenn man in einem Restaurant sitzt.) Wir lieben die Schweizer, weil sie die Langeweile kultivieren, weil sie das phlegmatischste, ordentlichste, vorhersagbarste Volk der Welt sind. Wir lassen sie unsere Uhren herstellen, weil sie das immer perfekt machen. (Die Japaner können es auch, aber manchmal werden sie ganz besessen von ihrer Präzision, und dann stecken sie sich große Messer in den Bauch. Ich kann mir keinen Schweizer vorstellen, der so eine Schweinerei anrichten würde. Schweizer Messer sind außerdem kleiner und niedlicher, und sie haben vernünftige Geräte wie Korkenzieher und Nagelscheren dran, was die Japaner bei all ihrer Erfindungsgabe nie geschafft haben.) Aber jetzt müssen wir lesen, daß sich in den heimeligen Kantonen der schneebedeckten Alpen gewisse Gefühlsregungen angedeutet haben. Ein paar Menschen kamen ums Leben, und nicht bei allen sah es nach Selbstmord aus. Aber das ist nicht das Thema des Tages. Das Thema des Tages lautet, daß irgend jemand in der Schweiz an etwas Irrationales geglaubt hat. Mein Vertrauen in die Uhren ist erschüttert.

Die überraschenden Nachrichten hielten an. Die US-Presse enthüllte, daß der Führer einer der übelsten haitianischen paramilitärischen Gruppen im Sold der CIA gestanden habe. Toto Constant, der Führer der Fraph-Bande, der Menschenrechtsverletzungen begangen hatte und für die Unruhen verantwortlich war, die schon 1993 die USA an der Landung und Wiedereinsetzung der Regierung Aristide hinderten, wurde anscheinend von einem Oberst Patrick Collins als Informant bezahlt. Meine Steuerdollar haben also einem Folterer und Gangster einen Lebensstil ermöglicht, an den er ohne Zweifel gewöhnt war. Dabei bezahlen wir die CIA genau so wie die Schweizer wegen ihrer Präzision. Wir lieben sie wegen ihrer pingeligen Zuverlässigkeit und weil sie ganze Aktenberge anhäufen können, damit sie, wenn sie einen Informanten brauchen, nicht an einen geraten, der gleich der ganzen Welt erzählt, daß er für die Amerikaner arbeitet. Mein Vertrauen in ihre Wachsamkeit ist erschüttert.

Anscheinend bin ich nicht die einzige, deren Glaube an die CIA bröckelt. Überraschenderweise – noch eine unerwartete Meldung – hat der Kongreß eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um zu klären, ob die Zuverlässigkeit der CIA ihr Budget von drei Milliarden Dollar rechtfertigt. (Zum Vergleich: Das Außenministerium hat einen Etat von zwei Millionen.) Noch größer wäre die Überraschung gewesen, wenn der Kongreß gefragt hätte, ob die Frage die Kosten für die Untersuchung rechtfertigt. Aber ich glaube, Amerikaner können mit solch überraschenden Neuigkeiten nicht umgehen, und der Kongreß kommt wohl mit Zahlen überhaupt nicht mehr zu Rande. Die Volkszählungsbehörde hatte in der letzten Woche zu berichten, das mittlere Einkommen der Amerikaner sei 1993 um ein weiteres Prozent gesunken, und über eine weitere Million Menschen seien unter die offizielle Armutsgrenze gefallen (ein Jahreseinkommen von 14.763 Dollar für eine vierköpfige Familie). Die Reichen werden reicher, meinen die Leute von der Volkszählung, und die Lücke zwischen den Reichen und allen anderen wird immer größer. Die obersten zwanzig Prozent der Amerikaner verdienen 48,2 Prozent des Nationaleinkommens (Erbschaften, Investitionen etc. nicht gerechnet), während die untersten zwanzig Prozent 3,6 Prozent verdienen. Die Nachricht, daß das mittlere Einkommen sinkt, war für die Regierung eine Überraschung, weil die Wirtschaft auf dem Papier in der Erholung ist. Sonst war niemand überrascht.

Die größte Überraschung kam dann schließlich aus zwei Sex-Untersuchungen, die vor kurzem veröffentlicht wurden: eine über die Sexualgewohnheiten der Amerikaner, die andere über die der Deutschen. Anscheinend hängen die deutschen Sexualpraktiken von der politischen Überzeugung ab. Christdemokraten ziehen die Missionarsstellung vor, ohne Licht. Die Liberalen mögen wechselnde Positionen, und 38 Prozent zogen Gruppensex vor. Die Grünen haben eine Vorliebe für oralen Sex, und die Sozialdemokraten bezeichnen sich als „hervorragende Liebhaber“. Wie sie das machen, wird nicht so recht klar. Die „Republikaner“ stellen sich in ihren Phantasien Sex mit Ausländern vor, besonders mit asiatischen Frauen (56 Prozent), was für die asiatischen Frauen keine Überraschung sein dürfte. 22 Prozent der „Republikaner“ waren schon als Sextouristen in Thailand. Was die reine Menge an Sex betrifft, lagen die Christdemokraten ganz hinten (über die Hälfte gab an, sie seien seltener als einmal im Monat aktiv) und die Leute von der PDS ganz vorn (20 Prozent behaupteten, sie betätigten sich mindestens einmal täglich). Ich bin froh, daß der Aufschwung Ost sie nicht allzusehr in Anspruch nimmt. Die Amerikaner sind im Durchschnitt aktiver als die Deutschen, was in Amerika natürlich niemanden überraschen kann. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen

von Meinhard Büning

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