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Archiv-Artikel

Sehen lernen wie ein Blinder: „Augenlied“ im Lichtmeß Der Körper als Konstrukteur

Ein Film über Blindheit – wie sähe er aus? Der Dokumentarfilm Augenlied von Mischka Popp und Thomas Bergmann singt ein Lied davon. Dort erzählen Blinde über ihre Welterfahrungen, berichten über ihr „Sehen“, über ihre Träume und den Abgrund, der sich zwischen ihrer Wahrnehmung und jener von Sehenden auftut.

„Sehende glauben oft, wir Blinde seien von ihrer Welt des Lichts ausgeschlossen, wir lebten in einer Welt der Dunkelheit“, sagt beispielsweise einer der Interviewten, der Philosophieprofessor John M. Hull. „Aber in Wirklichkeit müssen wir lernen, dass es unterschiedliche Welten gibt. Unsere Körper sind die Perspektive, durch die wir die Welt erschaffen. Die Welt ist ein Konstrukt, und für diejenigen, die in der sichtbaren Welt leben, ist sie ein Konstrukt ihrer sehenden Körper.“

Bei Blinden jedoch werden andere Sinne mobilisiert, sind Gehör, Geruch und insbesondere Fantasie jene Kräfte, die eine Welt erfahrbar und vorstellbar machen. „Wenn ich in der Natur bin, dann sehe ich die ganze Umgebung und weiß gleichzeitig, dass ich blind bin“, berichtet beispielsweise Günther Wieland. „Dann wachen meine Füße auf!“, umschreibt er einen Zustand, den er als „ich bin nicht blind“ bezeichnet. Für ihn bedeutet der Verlust des Sehens, dass „ein Fenster in die Welt entfällt“, das man nicht überbewerten sollte.

Trotzdem bricht er in Tränen aus, als er berichtet, drei Geliebte hätten unabhängig voneinander zu ihm gesagt, sie hätten völlig vergessen, dass er blind sei. Was bedeuten diese Tränen? Und warum zeigt die Kamera sie uns, als Rätsel, was in diesem Moment einen Menschen bewegt? Allein die Mutmaßung bleibt, dass trotz allen Reichtums und aller Andersartigkeit, die von den blinden Menschen als ihre Welt entworfen und beschrieben wird, der Abgrund zwischen ihnen und der Welt der Sichtbarkeit bleibt.

Aber ist das nicht eine allgemeine Bedingung des Menschseins? Hat nicht jede Person eine einzigartige Weltsicht, die sie nur bruchstückartig und mit unvollkommenen Mitteln mitzuteilen vermag?

Die Antwort auf diese Frage heißt ja und nein – zumindest, wenn man den blinden Menschen aufmerksam zuhört. So erzählt beispielsweise der sechsjährige Schüler einer Blindenklasse, der Unterschied zwischen Blinden und Sehenden sei wie derjenige zwischen Herren und Sklaven. Zwar mag dieser Vergleich herb sein, doch sagt er etwas über ein Dominanzverhältnis aus, das von der Norm der Sichtbarkeit bestimmt ist. Weil Sehende nicht gezwungen sind, sich mit einer anders strukturierten Welt auseinander zu setzen, weil sie in der Mehrzahl sind und nicht darauf angewiesen, ihre Wahrnehmung in Zweifel zu ziehen, glauben sie sich mit der besseren Sichtweise auf die Welt ausgestattet. Die Messlatte ist dann das Sehen – und nicht die Vielzahl der Erfahrungen, die jede Person auszeichnet. „Die ertastbare Welt ist für mich so groß, wie der Stock reicht“, sagt John M. Hull. „Der Rest ist Fantasie.“

Möglicherweise ist gerade das Sehen die Barriere, die sich zwischen den unterschiedlichen Welten auftut und nur durch Zuhören überbrückt werden kann. Eine Abhilfe besteht im Fragenstellen und diesbezüglich kann man von der sechsjährige Blindenschülerin lernen, die selbstbewusst und ein bisschen gelangweilt den Ball an die Filmemacher zurückwirft: „Und was hast du noch für Fragen?“

Doro Wiese

Donnerstag, 20 Uhr, Lichtmeß