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Sachsen-Anhalts Blechlawine rollt in den Kollaps

Kommunen suchen fieberhaft nach Auswegen aus dem drohenden Verkehrschaos/ Auto stehenlassen — für die Deutschen eine Utopie  ■ Von Norbert Claus

Halle. Als Umweltschützer vor wenigen Wochen in Halle den Thälmannplatz zur Hauptverkehrszeit blockierten, um für mehr Radwege zu demonstrieren, fiel das manch einem Kraftfahrer gar nicht auf. Langsam dahinkriechende Autoschlangen, Staus und Umleitungen sind in Halle nichts Besonderes mehr. Auch in zahlreichen anderen Orten Sachsen-Anhalts gleichen wichtige Durchgangsstraßen oft nur noch einzigen „Parkplätzen“.

Während Bernburg für die täglich zwischen Halle und Magdeburg Reisenden zu einem Reizwort geworden ist, genießt Barleben bei Magdeburg mit seinen Eisenbahnschranken den Ruf, an jedem Tag Tausende Termine platzen zu lassen. Fieberhaft wird deshalb von den Kommunen nach Auswegen aus dieser Situation gesucht, um der Verkehrslawine zu begegnen. In Weißenfels, wo sich seit Monaten streckenweise nichts mehr bewegt, wird eine verkehrsberuhigte Zone in der Innenstadt favorisiert. Stadtoberhaupt Martin Neumann geht davon aus: Eine Umgehungsstraße muß her.

Sogar von einem unter der 38.000 Einwohner zählenden Saale-Stadt hindurch zu grabenden Tunnel ist die Rede. Dies wäre langfristig die beste Variante, hieß es im Rathaus. Damit könnte auch verhindert werden, daß die Innenstadt durch eine breite Rollbahn zerteilt werde. Da der Tunnel den „Georgenberg“ unterqueren würde, wird in Weißenfels schon jetzt von der „Georgenbergtrasse“ gesprochen.

Auch im fünfzehn Kilometer südlich gelegenen Naumburg sieht man im Bau einer Umgehungsstraße den einzigen Ausweg. Das Stuttgarter Planungsbüro Kölz hat drei Varianten für deren Verlauf entworfen, damit die Gebiete Schulpforte, Bad Kösen und Wethau entlastet werden können. Das Schneckentempo auf den Straßen war kürzlich für Wirtschaftsminister Horst Rehberger Grund genug, in die Luft zu gehen. Bei einem einstündigen Rundflug mit einer AN-2 über der Saale-Unstrut- Region verschaffte er sich einen Überblick, wo sich künftig einmal der Verkehrsstrom entlangwälzen könnte. Er erfuhr, daß sich die Naumburger auch etwas davon versprechen, die Straßenbahn attraktiver zu machen. Ein Student aus Heidelberg hat der Stadt ein Konzept unterbreitet, nach dem die Tram als Saale-Unstrut-Bahn GmbH künftig bis nach Freyburg fahren soll.

Rehberger verwies darauf, daß in den nächsten Jahren in Sachsen-Anhalt insgesamt 90 Ortsumgehungen zu bauen seien. Bis 1995 solle auf diese Weise zunächst 24 Orten Linderung verschafft werden. Die neuen Trassen werden in jeder Richtung zweispurig gebaut und sind zugleich der Anfang für den generellen Ausbau der Bundesstraßen auf dieser Breite. Mit den Ortsumgehungen werden vielerorts auch Eisenbahnquerungen beseitigt, so in Barleben und Sangerhausen, wo die Arbeiten bereits begonnen haben.

Nach Ansicht von Verkehrsexperten des Bundes hat Sachsen-Anhalt im Zentrum Deutschlands die Hauptlast des Transitverkehrs West-Ost zu tragen. Für 1991 stehen dem Land allein im Autobahn- und kommunalen Sraßenbau 622 Millionen Mark zur Verfügung.

Die Verlängerung der Autobahn A 14 zwischen Halle und Magdeburg sorgt seit Monaten für Zündstoff zwischen Befürwortern und Gegnern. Über drei Entwürfe zur Anbindung Halles wird allein in der Saalestadt diskutiert. Die Entscheidung stehe noch aus, war aus dem Magistrat zu hören.

Daß eine Autobahn die Städte Halle und Magdeburg verbinden muß, daran zweifelt inzwischen kaum noch jemand. Wer die Strecke zwischen beiden Orten in den vergangenen Wochen auch nur einmal zurücklegen mußte, gehört mit größter Sicherheit zu diesem Kreis. Der Bund hat das Projekt zu einem der wichtigsten Verkehrsbauten in den neuen Bundesländern erklärt. Noch in diesem Jahr, so verkündete es unlängst Bundesverkehrsminister Krause, soll der erste Spatenstich getan werden. Es handele sich um eine der wichtigsten Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung im Bundesland.

Ihre speziellen Probleme mit dem Verkehr haben auch die Bürger von Thale. Durch das enge Harzstädtchen im Bodetal quälen sich seit Monaten die Autoschlangen zum Hexentanzplatz und zur Roßtrappe hinauf. Deshalb hat man jetzt beschlossen, einen Großparkplatz in Thale- Nord oder Timmenrode zu bauen und die Ausflügler mit Bus oder Bahn heranzubringen, damit sie die sagenumwobenen Felsen erklimmen können. Die Stadtväter erhoffen sich dazu von Experten aus Hannover exakte Ratschläge.

So ist in den Amtstuben und Verkehrsämtern der Kommunen eine Zeit der Konzepte angebrochen. Nachgeholt werden muß, was Jahrzehnte zuvor sträflich vernachlässigt wurde. Bleibt zu hoffen, daß die am schlimmsten betroffenen Orte bis zum Abschluß der Genehmigungen und Vorbereitungsverfahren noch durchhalten.

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