SYMBOLISCHES NEUKÖLLN : Sofa auf Balkon
Berlin: Hartz-IV-Hauptstadt, na gut. Aber auch die Hauptstadt der Macher, die hier Boutiquen mit DIY-Plunder aufmachen, 3-D-Drucker-Bürgerinitiativen gründen, in einem Schlagloch ein Urban-Gardening-Projekt für Flüchtlinge hochziehen. All das ist vor allem Klaus Wowereit zu verdanken. Dessen Charisma war es, das die Visionäre, die Berlin heute zum Labor der Zukunft machen, in die Stadt gelockt hat.
In Nord-Neukölln ist täglich zu beobachten, wie aus einem absteigenden Stadtteil eine neue Stätte der Kreativität geworden ist, eine Art Montmartre des 21. Jahrhunderts. Wo einst Dönerbuden und leer stehende Ladenlokale das Weichbild prägten, erblüht neues Leben aus den Ruinen: Kneipen, Restaurants, Co-Working-Spaces für das internationale Kreativproletariat.
Freilich, manche Dinge ändern sich nie: In dem grauen Miethaus an der Ecke Weser-/Jansastraße steht auf dem Balkon im Erdgeschoss seit über einem Jahrzehnt eine abgeranzte, braun-graue Kunstledercouch, umgeben von lange vertrockneten Blumensträußen. Sie liefert ein exaktes Bild des Jammers, der einst hier geherrscht hat, so wie die „Kotzkölln“-Graffiti an der gegenüberliegenden Brandmauer. Ihre Bedeutung als Mahnmal Neuköllner Elends hat Detlev Buck erfasst, der den Balkon in seinem Film „Knallhart“ zeigt. Welche Szenen sich wohl hinter den mit Supermarkt-Werbezetteln abgeklebten Fenstern dieser Wohnung abspielen?
Diese Couch sollte umgehend in die „Westberlin“-Ausstellung des Berliner Stadtmuseums aufgenommen werden. Bis dahin könnte man dieses Monument urbanen Niedergangs zu einem Pop-up-Store für selbst genähte Eulentopflappen umgestalten. Berlin-Blogger, berichtet über dieses Unikum! Dann werden bald Touristen aus Südkorea dieses symbolische Sitzmöbel bestaunen. So wie sie es zuletzt mit der Rütli-Schule getan haben.
TILMAN BAUMGÄRTEL