STRAFRECHTSREFORM: ANKARA VERTEILT ZUCKER AN REAKTIONÄRE BASIS : CSU auf Türkisch
Die Nachricht klingt zunächst einmal absurd. Die Türkei diskutiert ihr letztes großes Reformpaket vor der EU-Entscheidung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen, und das Ergebnis ist: Ehebruch soll strafbar werden. Was hat das mit einer Anpassung an EU-Normen zu tun, wo solche groben Eingriffe in die Privatsphäre dank heftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in den letzten zwanzig Jahren überall abgeschafft wurden?
Früher hätte man gesagt, das ist Dialektik, heute kann man es, weniger kompliziert, schlicht als taktisches Manöver einer konservativ islamischen Partei bezeichnen, die nach Europa will und dafür Beruhigungspillen an ihre Basis verteilt. Es geht um eine grundlegende Reform des türkischen Strafgesetzbuches, die vielen in der AKP viel zu weit geht und ihrer Meinung nach die Handschrift der eigenen Partei vermissen lässt.
Deshalb haben nun AKP-Abgeordnete mit Rückendeckung des Justizministers angekündigt, sie werden einen Antrag einbringen, Ehebruch unter Strafe zu stellen, und auch versuchen, das Kopftuchverbot wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Opposition tut ihre Pflicht und spricht von dem Versuch, ein an sich progressives Gesetzesvorhaben von hinten durch die Brust ins Auge islamisch zu unterwandern. Tatsächlich wäre die Einführung der Strafbarkeit von Ehebruch ein Anachronismus, nicht nur im Verhältnis zu anderen EU-Ländern, sondern auch in der Türkei selbst. Ehebruch ist seit Jahrzehnten nicht mehr strafbar, im Gegenteil: Erst im letzten Jahr hat man im Zivilrecht Ehebruch als schuldhaften Scheidungsgrund abgeschafft. Strafbewehrung von Ehebruch wäre also auch rechtssystematisch Unsinn.
Was sich im Vorfeld der Parlamentsentscheidung jetzt zeigt, ist das reaktionäre Gesellschaftsbild vieler AKP-Funktionäre. Sie sind so etwas wie die CSU auf Türkisch. Dass ihre Forderung tatsächlich Gesetz wird, ist aber unwahrscheinlich. AKP-Chef Tayyip Erdogan hat schon mehrfach bewiesen, dass er seiner Basis zwar rhetorisch Zucker geben kann, wenn es dann darauf ankommt aber doch auf die gesellschaftliche Mehrheit zugeht und auch auf Stirnrunzeln aus den EU-Hauptstädten sehr sensibel reagiert. JÜRGEN GOTTSCHLICH