STOIBER DISKREDITIERT SICH MIT DER KRITIK AN MERKEL UND WESTERWELLE : Freiheit für Kapitalismus
Kriege beginnen nach Clausewitz nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung. So ähnlich ist es auch mit Revolutionen in der Politik. Mit verbalen Ausfällen hat CSU-Chef Edmund Stoiber den traditionellen Konservatismus gegen die Angreifer Angela Merkel und Guido Westerwelle verteidigt. Das demonstriert das wahre Ausmaß der Umwertung aller Werte, die das schwarz-gelbe Führungsduo dem bürgerlichen Lager in Deutschland verordnet hat.
Mit einer „ostdeutschen Protestantin“ und einem „Junggesellen“ – auf Deutsch: mit einer Frau und einem Schwulen – würden es Union und FDP bei der nächsten Bundestagswahl schwer haben, polterte jetzt Stoiber. Dem Macho-Duo Gerhard Schröder und Joschka Fischer könnten die beiden „nicht das Wasser reichen“. Damit sprach der Bayer nur aus, was in der Union viele denken. Gesagt haben es bislang aber nur die üblichen Verdächtigen vom rechten Rand, etwa der CSU-Abgeordnete Norbert Geis oder der brandenburgische CDU-Chef Jörg Schönbohm.
Von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl waren die Konservativen stets auf Patriarchen fixiert, die väterliche Fürsorge in der Sozialpolitik mit väterlicher Strenge in der Gesellschaftspolitik verbanden. Binnen weniger Jahre hat es Merkel geschafft, diesen Wertekanon ins Gegenteil zu verkehren und eine autoritätsgläubige Partei grundlegend zu modernisieren. In Wirtschaft und Gesellschaft gibt sich die Union jetzt gleichermaßen liberal. Freie Bahn für den Kapitalismus, der hierzulande auch im konservativen Milieu stets misstrauisch beäugt wurde. Freie Bahn aber auch für eine weibliche Kanzlerin und einen schwulen Außenminister.
Mit seinen Ausfällen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, trägt Stoiber unfreiwillig zum Erfolg der Kulturrevolution bei. Der Ton der Attacke diskreditiert die Kritik an Merkel und Westerwelle. Offenbar provoziert besonders die ostdeutsche Frau an der Parteispitze ihre konservativen Gegenspieler so sehr, dass sie sich durch unbedachte Äußerungen selbst ins Abseits katapultieren. RALPH BOLLMANN