piwik no script img

Archiv-Artikel

STEFAN REINECKE ÜBER DIE GRÜNDE DES GRÜNEN HÖHENFLUGS Wir sind die Guten

Die Grünen sind auch mangels fähiger Konkurrenz in der Opposition obenauf

Mit den Grünen geht es derzeit scheinbar nur bergauf. Die Umfragen sind glänzend, die Partei gewinnt Mitglieder. Dies zwar nur in bescheidenem Maß, aber in Zeiten, in denen CDU und SPD schrumpfen, ist schon das beachtlich. Angela Merkel hat die Grünen sogar zum Hauptkonkurrenten geadelt. In Baden-Württemberg haben sie realistische Chancen, den ersten grünen Ministerpräsidenten zu stellen, mit der SPD als Juniorpartner. Warum eigentlich? Ist das eine der flüchtigen Übertreibungen der Stimmungsdemokratie, vergleichbar mit dem Hype um zu Guttenberg? Oder ist es mehr?

Ein Grund für den grünen Boom dürfte sein, dass in den Unterschichten immer mehr nicht zur Wahl gehen. Das schadet der SPD, auch der Union, die mit dem unteren Drittel der Gesellschaft noch verdrahtet sind. Den Grünen, deren Klientel reicher und gebildeter ist, nutzt diese Wahlabstinenz. Außerdem haben sich nicht nur die Grünen in die Mitte der Gesellschaft bewegt, auch die Mitte ist den Grünen entgegengekommen. Die steigende Zahl von Akademikern nutzt der Partei. Die Grünen, in ihren Anfängen studentisch, heute arriviert, sind ein Phänomen der Wissensgesellschaft.

Das sind langwellige Entwicklungen, die eher den Hintergrund des Aufstiegs erklären. Aktuell fällt auf, dass diese Hausse auch die Grünen selbst ratlos macht. Man hatte nicht damit gerechnet und weiß auch nicht recht, welchen furiosen politischen Initiativen sich dieser Höhenflug verdankt. Bezeichnend ist, dass die Grünen in Umfragen sogar in Ländern wie Sachsen-Anhalt in die Höhe schießen, in denen die Partei eher die Größe einer Sekte hat. Eher zaghaft, bei zehn Prozent, ist der Zuspruch indes, wo die Grünen regieren, in Hamburg und im Saarland.

Die Grünen profitieren als einzige bürgerliche Oppositionspartei von der Enttäuschung über Schwarz-Gelb und deren Klientelpolitik. Außerdem sind sie mangels fähiger Konkurrenz in der Opposition obenauf. Die Linkspartei hat außer den Dauerbrennern – Hartz IV, Rente mit 67 und Afghanistan – weder eine neue Idee noch Personal, das diese verkörpern könnte. Die SPD wirkt ausgelaugt von elf Jahren Regierung. Sie leidet an der Hinterlassenschaft der Agenda 2010. Ihr fehlt, worüber die Grünen derzeit verfügen: eine glaubwürdige Erzählung.

Die Grünen sind, so ihr Selbstbild, erwachsen und bürgerlich geworden, aber trotzdem anders geblieben. Wir verdienen zwar zehnmal so viel wie zu den Zeiten von Startbahn West und Brokdorf, wir sind vernünftig geworden und tun auch niemand was, aber unsere Ideale haben wir nicht verraten. Wenn das grüne Spitzenpersonal gegen Stuttgart 21 und die Laufzeitverlängerung für AKW auf die Straße geht, dann bekräftigen diese Bilder diese Legende. Es ist eine robuste Erzählung, die erstaunlicherweise auch das Ja zu Hartz IV, dem Kosovo- und dem Afghanistan-Krieg überstanden hat. Kurzum: Die Grünen sind nach allen Seiten anschlussfähig, ohne dass dies ihren moralischen Markenkern – „Wir sind die Guten“ – zerstört hätte.

Klugen Beobachtern ist aufgefallen, dass die Grünen etwas sehr Deutsches verkörpern: eine unpolitische Sehnsucht nach Versöhnung. Die Grünen behaupten von sich, keine Interessenspolitik zu machen. In Freiburg werden sie ein Konzept für das Gesundheitssystem beschließen, das auch die eigene Klientel finanziell belasten würde. Ob die Grünen, wenn sie mal wieder regieren, davon noch viel wissen wollen, darf man bezweifeln. Denn im grünen Milieu zahlt man mal drauf, wenn es die Welt zu retten gilt, eher nicht, wenn man die Unterschicht alimentieren soll.

Wahrscheinlich ist der Treibstoff für den grünen Höhenflug nervöse Politikverdrossenheit, ein wachsendes Misstrauen in institutionalisierte Politik. Die grüne Erzählung – draußen demonstrieren, aber ebenso solide drinnen verwalten zu können – ist ein ideales Ventil für diesen Verdruss. Die Grünen profitieren somit von Unzufriedenheiten, die anderswo Rechtspopulisten ausnutzen. Sie sind derzeit das Paradox einer Partei, die denkbar weit entfernt von allem Populismus agiert, die imprägniert gegen Rassismus ist und trotzdem von Stimmungen lebt, die sonst Populisten nutzen. Die Grünen sind das Gesicht des deutschen Populismus: zivil, bürgerlich, nett. Schlecht ist das nicht. Ob es stabil ist, muss man bezweifeln.

Inland SEITE 5, Essay SEITE 27