ST. MARIEN LIEBFRAUEN : Auch als Atheistin
Neulich war ich zum ersten Mal in der katholischen St.-Marien-Liebfrauen-Kirche in der Wrangelstraße in Kreuzberg. Eine Freundin singt in einem Chor, der dort ein Konzert gab. Wir haben zusammen studiert, und es war Ehrensache, dass ich hinging, auch als Atheistin. Ich war überrascht, wie viele Menschen sich eine halbe Stunde vor Beginn des Konzertes mit Werken von Johann Sebastian Bach und Giovanni Battista Pergolesi vor dem Gotteshaus eingefunden hatten. Schnell merkte ich, dass das keine Konzertbesucher waren, sondern Obdachlose, die die Suppenküche auf dem Kirchengelände besuchten. Während der Chor noch probte, rollte eine Frau mit ihrem Rollstuhl vor die Stufen der Kirchentür und schrie fordernd „Hallo!“, was die Männer auf dem Hof unchristlich mit „Halt’s Maul!“ und „Fresse!“ kommentierten. Etwa 50 Besucher saßen dann in der Kirche und lauschten den zehn Frauen und ihrem Chorleiter, der sie auf der Orgel begleitete. Ich freute mich, wenn ich die Stimme der Freundin heraushörte, aber bisweilen war ich abgelenkt. In der Reihe vor mir saß Ulf Mann, der vor fast 30 Jahren mehrere Millionen Mark von seinem Vater geerbt hatte, dem eine Medikamentenfabrik gehörte. Mit dem Geld hatte er die „Stiftung Umverteilen“ gegründet. Er war so begeistert von dem Chorgesang, dass er einmal spontan klatschte. Wie immer trug er eine blaue Latzhose und Stricksocken in den Sandalen. Bisweilen drangen laute Rufe und Hundegebell aus dem Hof in die Kirche, und eine Frau, die im hinteren Teil selbstvergessen tanzte, gab seltsame Geräusche von sich. Niemand störte sich daran. Es war ein schönes Konzert, und die Klänge waren bisweilen so warm, dass sie die Kälte zwischen den Holzbänken vertrieben. In ihrer Selbstdarstellung schreibt die Kirche: „Es gibt bei uns (fast) nichts, was es nicht gibt. Jede und jeder ist willkommen.“ Das kann ich bestätigen.
BARBARA BOLLWAHN