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Archiv-Artikel

SKALITZER STRASSE Wenn ihr uns stecht

Er sagt dem Stecher, was er gern auf dem freien Arm hätte

In der taz lese ich, wie eine Autorin einem Musiker, der auf der Bühne viel herumhüpft und sehr schwitzt, gern den Schweiß ablecken möchte. Ist ja eklig, denke ich. Vielleicht ist der auch noch ganzkörpertätowiert. Wer weiß, was es da abzulecken gäbe. Schlangen? Drachen? Lurchis?

Ein Freund ruft an, ob ich ihn nicht in ein Tätowierstudio begleiten könnte. Er will sich einen Anker stechen lassen. Bei „Stechen“ fällt mir immer Shakespeare ein, genauer gesagt „Sein oder Nichtsein“ von Lubitsch, wo ein Nebenrollenschauspieler für sein Leben gern den Shylock geben würde: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“ Okay, das war als rhetorische Frage formuliert, aber sieht man von dieser Kleinigkeit ab, erweist sich Shakespeare doch als sehr prophetisch. „Wieso Anker? Du bist doch gar kein Seemann“, frage ich. Mein Freund sagt, dass er selbst vor Anker gehen will. Auch ein interessantes Motiv. Natürlich gehe ich mit. Schon aus ethnologischen Gründen.

In der Skalitzer Straße in der Nähe des Schlesischen Tors gehen wir mit eingezogenen Köpfen ein schmales Treppchen hinab ins Souterrain. Ein kleiner Raum wird geteilt durch einen Tresen, auf dem ein Katalog liegt mit sehr vielen komplizierten Ornamenten, die man sich stechen lassen kann.

„Bist du Seemann?“, fragt der Stecher. Ihm gefällt der Anker. Während der Stecher sticht, kommt ein Mann mit eingezogenem Kopf die schmale Treppe herab. Der eine Arm ist vollkommen tätowiert, der andere nicht. Der Mann sagt dem Stecher, was er gern auf den freien Arm hätte: unten eine Taube, als Symbol der Konsumgesellschaft, und zwar mit aufgerissenem Schnabel, in den von oben der ganze Müll der Zivilisation fällt – ein Fernseher, ein Kühlschrank, ein Mixer. „Könnte schwierig werden“, gibt der Stecher zu bedenken. Ich hingegen denke, oh Gott, wenn ich das alles ablecken müsste.

KLAUS BITTERMANN