SCHWEDEN IST VERLIEBT IN SEINE EIGENE FRIEDLICHKEIT – UND IM IRRTUM : Offenheit, Offensive und Naivität
Nach sechs Monaten jetzt das Urteil – doch den Mord an ihrer Außenministerin hatten die SchwedInnen schon lange vor dem gestrigen Gerichtsspruch aus dem Bewusstsein verbannt. Nie mehr werde es so sein wie vor den Messerstichen, kommentierten am Tag nach dem 10. September 2003 einmütig die Zeitungen – seine Unschuld habe das Land verloren. Aber war das nicht schon bei der Ermordung von Ministerpräsident Olof Palme passiert – und schnell wieder vergessen?
Innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten hat Schweden die Nummern eins und zwei der Politik verloren, Opfer von Pistolenschüssen und Messerstichen, einmalig im Nachkriegseuropa. Und doch herrscht im Land eine ganz andere Vorstellung von Einmaligkeit, eine lange und gefestigte Tradition als Ausnahmeland, aber als Oase in einer Welt von Kriegen und Unruhen. Seit Generationen, so das Selbstbild, hat sich das Land aus den Kriegen herausgehalten, weit und breit fehlt es an Nährboden für schwerwiegendere innere Konflikte – Schweden sei ganz einfach weniger anfällig für politische wie wirtschaftliche Unruhe. Und diese felsenfeste Überzeugung lässt sich die Gesellschaft weder durch politisch motivierte noch durch kranke Attentäter in Frage stellen, weder durch Währungsspekulationen noch globale Wirtschaftskrisen. Und weder durch einen 11. September noch durch einen 11. März. Auch die Anschläge von Madrid haben keine Spuren in Schweden hinterlassen. Ja, Dänemark oder Polen – aber doch nicht wir!, scheint das kollektive Bewusstsein zu sprechen. Und in der natürlich unbewachten Stockholmer U-Bahn kann man auch jetzt noch einer Ministerin ohne Leibwächter gegenübersitzen.
Es ist liebenswürdig und lebenswert, wenn sich eine Gesellschaft so ihre Offenheit bewahren will. Doch nur für unhysterische Reaktionen verdienen Schwedens PolitikerInnen Lob, nicht für die Naivität und den Selbstbetrug, auf dem sie beruhen. Wenn sich die schwedische Gesellschaft schon als Modell will, müsste ihre Politik zugleich liberal und schützend sein, ergänzt durch eine offensive Außenpolitik, die auf die Gründe für terroristische Gewalt hinweist. Das wäre wohl auch im Sinne von Olof Palme und Anna Lindh. REINHARD WOLFF