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Archiv-Artikel

SCHRÖDER UND FISCHER WOLLEN PUTIN NICHT WEGEN BESLAN KRITISIEREN Falsche Solidarität

Es gibt Ereignisse, die sprachlos machen. Die Bilder von blutenden, sterbenden Menschen in Beslan treffen uns ins Mark, weil sie alles übersteigen, was wir uns bisher vorstellen konnten. Nichts scheint mehr unmöglich, wenn Menschen dazu fähig sind, wehrlosen fliehenden Kindern in den Rücken zu schießen. Wir fühlen Mitleid – und Angst. Wir befürchten, dass sich die Gewalt immer weiter steigert und wir irgendwann selbst davon betroffen sind. Diese Sorgen sind ebenso berechtigt wie gefährlich, weil sie politisch ausgenutzt werden.

Mit ihren Stellungnahmen appellieren der Kanzler und sein Außenminister an unsere Gefühle, nicht an unseren Verstand. Das Wichtigste, sagen Gerhard Schröder und Joschka Fischer, sei jetzt Solidarität mit Russland. Wer wollte das bestreiten? Es scheint auch nachvollziehbar, wenn Schröder erklärt, nun sei nicht die Zeit, Ratschläge zu geben. Damit tut der Regierungschef so, als ginge es ihm wie uns, als sei er angesichts des Schreckens, wie jeder Bürger, erst mal sprachlos. Das müssen wir doch verstehen! Müssen wir?

Nein. Denn Schröders Zurückhaltung ist perfide. Sie ist ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen und zu übertünchen, dass er selbst, wie kaum ein anderer westlicher Politiker, zur Eskalation der Gewalt im Kaukasus beigetragen hat. Schröder hat Wladimir Putin nicht nur freie Hand im brutalen Umgang mit dem tschetschenischen Widerstand gelassen. Er hat sich mit Russlands Präsidenten verbrüdert, manipulierte Wahlen legitimiert und gemäßigten Tschetschenen signalisiert, dass sie auf ihn nicht zählen können.

Wäre nicht jetzt, nach Beslan, die Zeit für andere Signale gekommen? Offenbar nicht. Schröder zumindest sagt mit seiner Zurückhaltung nur eins: Weitermachen. Er betont, man könne nicht mit Menschen verhandeln, die Kindern in den Rücken schießen – und wirft damit, ebenso wie Putin, alle Tschetschenen in einen Topf. Diese Haltung ist nicht nur gefährlich, weil sie den Kaukasus-Konflikt weiter zuspitzt. Für einen Kanzler, dessen Partei gerade erst als „Friedensmacht“ Wahlkampf gemacht hat, ist sie beschämend. LUKAS WALLRAFF