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Archiv-Artikel

SCHRÖDER GIBT DER KOALITION KEINE RICHTUNG VOR, WEIL ER KEINE HAT Koalition ohne Kanzler, Krise ohne Kern

Ist die Regierung noch bei Trost? Riskiert Joschka Fischer eine zu dicke Lippe? Hat Otto Schily sich endgültig nicht mehr im Griff? Muss Béla Anda gehen? So offensichtlich der miserable Zustand der Regierung ist, so schwer ist zu fassen, woran der akute Ausbruch an Verwirrung liegt. Ein Grund: Es kommen zwei Phänomene zusammen. Rot und Grün erweisen sich gerade als Koalition ohne Kanzler – und die laufenden Chaostage als Krise ohne Inhalt.

Worüber streitet Rot-Grün überhaupt? Es ist ein merkwürdiges Feuerchen, das da an zwei Brandherden gleichzeitig begonnen hat, den Verhandlungen über ein Zuwanderungsgesetz und dem Streit um die Zukunft der Sparpolitik. Inhaltlich verbindet beide Themen kaum etwas, überdies verlaufen die Fronten in beiden Fällen ganz unterschiedlich: bei der Zuwanderung im Wesentlichen entlang der Rot-Grün-Grenze, beim Sparkurs kreuz und quer. So versagen die üblichen Erklärungsmuster von früheren Koalitionskrächen.

Weder handelt es sich um einen Konflikt von Moderne versus Tradition wie bei der Umweltpolitik, noch von Idealismus versus Pragmatismus wie bei Panzerexporten. Darum verfallen so viele Beobachter auf die psychologische Diagnostik der Akteure oder suchen nach lockeren Schrauben im Regierungsapparat. Politisch betrachtet aber reibt sich Rot-Grün auf an einer Krise ohne Kern.

Und was tut Gerhard Schröder? Es gab einmal einen Kanzler, der konnte ohne Krisen gar nicht regieren, so eifrig bewältigte er sie. „Was macht ein Schmidt ohne Krise?“, fragte der Spiegel kurz vor der Bundestagswahl 1976 und diagnostizierte, der Sozialdemokrat brauche Schwierigkeiten, um erfolgreich zu sein. So gesehen müsste sich Schröder eigentlich freuen: Die Gelegenheiten zur Profilierung nehmen kein Ende.

Doch als Steuermann ist er auf seltsame Weise abwesend – er lässt die Krise ungenutzt. Gerade mal ein Jahr ist er einer Richtschnur gefolgt, die dem ewig Schwankenden einen halbwegs geraden Kurs ermöglichte. Seit ihn der Glaube an die Agenda 2010 verlässt, verfällt er in sein altes Übel: Er vermag der Koalition keine Richtung vorzugeben, weil er selbst nicht weiß, wohin. PATRIK SCHWARZ