SASCHA ZASTIRAL ÜBER INDIENS JUSTIZ UND DIE GLEICHSTELLUNG HOMOSEXUELLER : Urbanität gegen religiösen Eifer
Nun scheint es, dass wir im 21. Jahrhundert angekommen sind“, sagte die Aktivistin Anjali Gopalan, nachdem das Oberste Gericht in Delhi am Donnerstag den Paragrafen 377 des indischen Strafgesetzbuchs gekippt hatte, der Indiens Schwule und Lesben zu Schwerverbrechen stempelte. Bezogen auf die Rechtsprechung, hat sie damit recht. Ob sich die überwiegend konservative indische Gesellschaft damit gegenüber Homosexuellen öffnen wird, ist jedoch fraglich. Denn das heutige Indien lebt in vielen Jahrhunderten.
Die Ober- und Mittelschicht in Megacitys wie Bombay und Delhi sehen sich eher als Teil einer weltweiten urbanen Elite denn als Teil einer von unzähligen Problemen geschlagenen Gesellschaft eines überbevölkerten Schwellenlandes. In Bombay etwa sind Schwulenbars und Gayclubs bereits seit Jahren Normalität.
Problematisch wird es aber, wenn sich religiöse Scharfmacher einmischen, die meist von den Übergangenen und den Verlierern des Megabooms unterstützt werden: So hat die Hindu-nationalistische Indische Volkspartei (BJP), nachdem sie im Bundesstaat Karnataka an die Macht gekommen ist, „öffentliches Tanzen“ unter Strafe gestellt. Ausländische Besucher können sich auch nur wundern, wenn in Bangalore, Indiens IT-Schaukasten und einer der modernsten Städte des Landes, alle Cafés und Bars um 22 Uhr schließen und nicht angemeldete Technopartys „zur Wahrung der Tradition“ von Sondereinsatzkommandos gestürmt werden.
Die selbst ernannten „Retter der Kultur“ haben sich auch jetzt umgehend zu Wort gemeldet und das Gerichtsurteil scharf kritisiert. Hoffentlich nutzen sie die Entscheidung des Gerichts nicht als Anlass zu Orgien der Gewalt gegen Schwule und Lesben. Ob Indien wirklich in absehbarer Zeit im 21. Jahrhundert ankommen kann, wird sich daran zeigen.