Russland-Politik in Trümmern: Tödliche Ignoranz

Bei den alten Griechen wären verantwortliche Politiker wie Steinmeier (SPD) und Schwesig (SPD) ins Exil verbannt worden. Heute würden es ihre Rücktritte tun.

Siebenjähriger mit Spielzeuggewehr aus Holz neben zerstörten russischen Militärfahrzeugen in der Nähe von Tschernihiw Foto: dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 19.04.22 | Alexander Kluge, der Filmemacher und intellektuelle Vorausdenker, sieht auch im kriegerischen Feind den Menschen, versucht ihn zu verstehen, will sich vom Entsetzen nicht den Verstand rauben lassen (siehe Zitate). Er geht mit den Weimarer Klassikern davon aus, dass in jedem Menschen das unzivilisierte Böse immer wieder um Hegemonie ringt, der Verstand aber die Kraft hat, dieses Böse in einem alle Seiten zivilisierenden Gleichgewicht einzuhegen.

„Das Entsetzen über die Toten, das uns unausweichlich bewegt, kann die Verhandlung über den Stillstand der Waffen unmöglich machen. (…) Aber die Weimarer Klassiker sagen, wir Menschen seien „Gleichgewichtler“. (…) Gleichgewicht zwischen gegensätzlichen Gefühlen und der „Tanzschritt des Geistes“, der zwischen Verstand und Emotion vermittelt, hat nichts mit Anpassung oder Passivität zu tun. Vielmehr geht es darum, Vielfalt, Reibung und Widersprüchlichkeit in uns und in der Außenwelt zu akzeptieren.“

Alexander Kluge, SZ, 13.April

„Ich möchte davor warnen, dass die Empörung (…) den Eindruck verfestigt, als ginge es jetzt nur noch darum einen offenen Antagonismus, den man auf militärischem Gebiet mit guten Gründen scheut, um so radikaler, auf das Feld wirtschaftlicher Sanktionen zu verlagern. Wer so handelt, vergeudet das friedenstiftende Potential wirtschaftlicher Zusammenarbeit und leistet dem moralischen Anliegen einen Bärendienst, möglichst viele Menschenleben zu retten.“

Ingo Pies, FAZ, 11.April

„Ich verurteile den Angriffskrieg Russlands aufs Schärfste, aber ich habe weder Lust zu frieren, noch will ich einen 3. Weltkrieg.“

Florian Post, Ex-MdB der SPD, auf Twitter, 13.April

Ingo Pies, der Wirtschaftsprofessor und -ethiker, verurteilt den immer stärker ausgeweiteten Ersatzkrieg mit wirtschaftlichen Sanktionen. Er vertraut darauf, dass gerade jetzt eine vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit den Krieg und das Morden beenden könnte.

Florian Post, der SPD-Politiker, will den Krieg für sich und uns alle einfach auf Abstand halten. Er will nicht reingezogen werden, will sein Gewissen mit verbaler Anti-Kriegs-Rhetorik beruhigen.

Für alle drei scheint es eine Tatsache zu sein, dass es neben der Herrschaft der Gesetze die Willkür der Mächtigen gibt – und neben den freiheitlichen Demokratien des Westens kriegslüsterne Diktaturen jeder Provenienz. Beide Seiten sehen sie in einem beständigen Kampf um die Vorherrschaft, den Lauf der Menschenwelt zu bestimmen. Wichtig scheint ihnen nur, dass in diesem Kampf der Ideen und Systeme der physische Schaden für die Menschen eingegrenzt wird.

Die Ukrainer werden sich nicht ergeben

Es macht aus ihrer Sicht auch keinen Sinn, für Freiheit kämpfend zu sterben. Das halten sie für emotionale Verblendung. Sie gehen wohl davon aus, dass viele Menschen auch in einer Diktatur, mit welchen Verbrechen auch immer an der Macht gehalten, genügend Raum finden können, ganz zufrieden zu leben.

Der kategorische Imperativ Kants ist für sie nur eine philosophische Luftnummer. Davon ausgehend sagen sie: Gebt Putin und seinen Russen, was sie wollen, etwa die von ihnen definierte machtpolitische und militärische Einflusszone einer eingebildeten Weltmacht. Stützt ihr Regime durch garantierte Rohstoffkäufe und engen wirtschaftlichen Austausch, beendet damit den Krieg und beginnt auf dieser Grundlage ein Zusammenleben mit ihnen in friedlicher Koexistenz, ungeachtet der verschiedenen politischen Systeme.

Die Wirklichkeit aber verweigert diesem strategischen Narrativ jede Perspektive.

Die Wirklichkeit sind die Ukrainer. Sie spielen in diesem Szenario nicht mit. Sie sind seit ihrem Maidan auf dem Weg nach Westen. Ihre Perspektive sind Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Sie werden sich nicht ergeben.

Der Preis seiner Freiheit ist die Wehrbereitschaft des Westens

Die Wirklichkeit sind die anderen Osteuropäer, aber auch Finnland und Schweden. Sie alle werden die nach 1990 gewonnene Selbständigkeit und Freiheit oder ihr erfolgreiches westliches Lebensmodell nicht kampflos aufgeben. Sie gehen davon aus, dass das russische Streben nach einer bestimmenden Rolle in der Weltbeherrschung den Krieg auch über ihre Grenzen tragen wird.

Und da sind die USA, die EU und die Nato. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine die westliche Welt an der Schwelle eines wahrscheinlich jahrzehntelangen, weltweiten Kalten Krieges steht. Jetzt wird klar: Der Preis der Freiheit und des westlichen Lebens- und Gesellschaftmodells ist seine Wehrbereitschaft. Diese Wehrbereitschaft mit einer offensiven Aufrüstung herzustellen und das westliche Verteidigungsbündnis auch durch die Aufnahme der Ukraine, Finnlands und Schwedens in die Nato auszubauen, das wird zur zentralen Aufgabe der Sicherheitspolitik jeder Regierung des Westens werden.

Ob es gelingen wird, als verdeckte, waffenliefernde Kriegspartei der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, das ist noch nicht entschieden. Die Gewaltbereitschaft und die Eskalationsmöglichkeiten der Russen bis hin zum Einsatz von Bio- und taktischen Atomwaffen sind nicht ausgeschöpft.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Westen sein Lebensmodell schon bald auch militärisch auf seinem eigenen Territorium verteidigen muss, von Berlin, Warschau, Helsinki und Bukarest aus bis an die Westgrenzen Russlands.

Die Russland-Politik der Bundesrepublik ist spektakulär gescheitert

Die Bundesrepublik, und das meint alle Regierungen der letzten Jahrzehnte, haben die russische Politik einer mit hoher Gewaltbereitschaft verbundenen Feindschaft gegenüber dem Gesellschaftsmodell des Westens ignoriert. Sie dachten, sie könnten mit einer ökonomischen Verflechtung bis hin zu einer langfristig garantierten Abnahme seiner Rohstoffe einen humanisierenden Systemchange im autoritären Russland befördern.

Diese Politik ist gescheitert.

Es reicht nicht aus, wenn die für diese Politik Verantwortlichen nun Fehler einräumen. Bei den alten Griechen wären solche Politiker per Scherbengericht für Jahre ins Exil verbannt worden. Heute könnten, deutlich weniger schmerzhaft, die Rücktritte von Herrn Steinmeier (SPD), von Frau Schwesig (SPD) und der Ausschluss von Ex-Kanzler Schröder aus der SPD dazu beitragen, die Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs der bundesdeutschen Sicherheitspolitik herzustellen.

Alexander Kluge, Ingo Pies und Florian Post sind keine Einzelgänger. Sie vertreten Positionen, die in der Bundesrepublik derzeit noch mehrheitsfähig sind. Ein finnischer Bauer hat kürzlich auf die Frage, was er im Falle eines russischen Angriffs tun würde, geantwortet, er würde sein Gewehr holen. Sein Kollege in der Bundesrepublik würde sich wohl eher kampflos ergeben und sich dann in neue Machtverhältnisse unkompliziert einfügen.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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