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Revolutionäre Ungeduld brachte Jelzin zu Fall

■ Prawda berichtet über die Absetzung des Moskauer Stadtparteichefs / Jelzin bemängelte fehlenden Elan bei der Durchsetzung von Reformen / Harsche Kritik Gorbatschows an Jelzins Vorgehen / Jelzin bußfertig: „Ich habe mein Gesicht als Kommunist verloren...“

Moskau (dpa) - Über die Hintergründe der Absetzung des Moskauer Stadtparteichefs Boris Jelzin hat die Prawda berichtet. Aus einem Bericht über das jüngste Plenum der Moskauer Parteiorganisation geht hervor, daß Jelzin zurücktreten mußte, weil er eine äußerst kritische Bilanz der sowjetischen Reformpolitik gezogen und dabei auch Mitglieder des Politbüros kritisiert hat. Seine Gegner in der Moskauer Partei rechneten auf dem Plenum unerbittlich mit ihrem ehemaligen Chef ab. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow kritisierte in seiner auszugsweise veröffentlichten Rede vor allem den Auftritt Jelzins auf dem Plenum des Zentralkomitees am 21. Oktober: „Die Hauptfrage, die sich den Mitgliedern des Zentralkomitees stellte, war die folgende: Kann es sein, daß Boris Jelzin wirklich nichts Positives seit dem ZK–Plenum vom April 1985 sieht?“ Das April–Plenum von 1985 wird von der Sowjetführung immer wieder als Beginn der neuen Ära unter Gorbatschow bezeichnet. Für die Sowjetbürger gibt es im täglichen Leben jedoch kaum positive Veränderungen seit die ser Zeit. Wahrscheinlich hat Jelzin diese Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Reform kritisiert. Nach den Worten Gorbatschows warf Jelzin der Parteiführung vor, daß sie „nicht genügend ,revolutionären Elan bei der Durchsetzung der Perestroika (Umgestaltung) aufbringe“. Der Kremlchef erklärte ferner, Jelzin habe versucht, die „Perestroika“ infrage zu stellen. Dies sei so weit gegangen, daß er behauptet habe, die Umgestaltung bringe den Menschen nichts. Der Kremlchef beschuldigte Jelzin der „Demagogie“ und der „Falschspielerei“. Andere Redner auf dem Moskauer Parteiplenum warfen ihm vor, er habe „ultralinke und besonders radikale Erklärungen“ seit dem Beginn seines Amtsantritts gemacht. Gorbatschow erklärte, daß er persönlich unter dem leide, was passiert sei. In persönlichen Gesprächen habe er Jelzin geraten, die Frage seines Rücktritts angesichts der Feiern zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution zurückzustellen. Jelzin habe jedoch „in Verletzung der Partei– und der menschlichen Ethik“ die Frage dann doch auf dem ZK–Plenum zur Sprache gebracht. „Man muß sagen, Boris Nikolajewitsch, deine Ambitionen haben dir im Weg gestanden, sehr im Weg gestanden“, erklärte Gorbatschow. Der KPdSU–Generalsekretär wandte sich energisch gegen eine negative Interpretation seiner Politik. Er bezeichnete seine eigene Amtsperiode als „überaus fruchtbare Zeit im Leben der Partei und der Gesellschaft“. Gegner im Ausland hätten erklärt, daß es sich bei der neuen sowjetischen Politik um eine neue Kampagne handele, wo eine neue Führung mit der alten abrechne, sich in Wirklichkeit aber nichts tue. Jetzt wolle man Zweifel in der sowjetischen Arbeiterklasse säen, um die Perestroika zu kompromittieren. Gorbatschow, der Jelzin 1985 aus der Ural–Stadt Swerdlowsk nach Moskau geholt hatte, um den teilweise korrupten Parteiapparat zu säubern, kritisierte ihn jetzt, daß er nunmehr zum zweiten Mal die Kader habe erneuern wollen. Die Gegner Jelzins in der Moskauer Parteiorganisation rechneten auf dem Plenum offenbar vor allem aus diesem Grund unerbittlich mit ihm ab. Jelzin bekannte sich in seiner Rede auf dem Moskauer Stadtparteiplenum selbst als schuldig: „Ich habe mein Gesicht als politischer Führer und als Kommunist verloren. Ich bin schuldig vor der Parteiorganisation ...“ Er sei auch gegenüber Gorbatschow schuldig, dessen Autorität in der Sowjetunion und in der ganzen Welt so hoch sei. Der Kremlchef sagte in einem Schlußwort: „Diese Lektion sollte nicht vergessen werden. Es ist auch eine Lektion für das Zentralkomitee.“

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