■ Replik auf Myriam Fiorani („Von Italien lernen“): Italiens Justiz – Theorie und Praxis
Es stimmt ja: Italiens Staatsanwälte und Richter haben Unternehmer und die mit ihnen verfilzten Politiker das Fürchten gelehrt, Hunderte hoher und höchster Manager wurden eingesperrt, für gut ein Drittel der Mitglieder des derzeitigen Parlaments sind Anträge auf Aufhebung der Immunität gestellt und in den meisten Fällen bereits akzeptiert worden.
Myriam Fiorani führt dies in ihrem Debattenbeitrag (taz vom 24. Juli) auf die absolute Autonomie zurück, die Italiens Justiz genießt, und bezeichnet diese zu Recht als weltweit einmalig: Versetzungen, Beförderungen, Disziplinarverfahren, Überprüfung von Amtsmißbrauch oder Befangenheit obliegen nicht dem Justizministerium, sondern einem „Obersten Richterrat“ (Corte suprema della magistratura, CSM). Lediglich bei vorsätzlichen Fehlurteilen und Amtsmißbrauch hat der Justizminister ein Vorermittlungsrecht. Die Mitglieder des CSM werden zu zwei Dritteln von allen Angehörigen des Berufsstandes (Richter und Staatsanwälte) und zu einem Drittel vom Parlament (mit jeweils zwei Drittel Mehrheit) gewählt. Die Amtszeit beträgt vier Jahre. Wiederwahl ist ausgeschlossen.
Doch bei der Wertung dieser Einrichtung müssen wir – und das hat Myriam Fiorani unterlassen – drei Dinge unterscheiden: erstens die Theorie, zweitens die Praxis und drittens die möglichen „Verirrungen“ dieses Systems.
So stellt sich zunächst die Frage, wieso die so unabhängige Justiz denn erst 1992 den immensen Bestechungsskandalen, die bis heute täglich für neue Schlagzeilen sorgen, zu Leibe rückte. Tatsächlich gab es das System Tangentopoli (von tangente, Schmiergeld) im nun zutage getretenen Ausmaß bereits seit gut zwei Jahrzehnten. Es gab durchaus auch Ermittlungsrichter, die sich da heranmachten. Nur: Sie wurden genau von jenem CSM gebremst, der nun die Meriten für Unabhängigkeit einheimst. Der Trientiner Chefermittler Carlo Palermo z.B. hat bereits zu Beginn der 80er Jahre riesige illegale Parteifinanzierungen erkannt (und zwar im Rahmen eines immensen Waffenschieberskandales) – doch wurde Palermo, obwohl die Regierung keinerlei Weisungsbefugnis hat, nach Attacken durch den seinerzeitigen sozialistischen Regierungschef Craxi (dessen Partei besonders betroffen war) auch vom CSM so bedrängt, daß er die Ermittlungen abgab.
Ein anderes Beispiel: 1981 flog die Existenz der kriminellen Geheimloge „Propaganda 2“ auf, in der Geheimdienstchefs, Spitzenpolitiker, Generäle und Industriemanager Mitglieder waren und die sich auch terroristischer Methoden bediente, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Der CSM billigte damals, daß der römische Oberstaatsanwalt Galluzzo die Untersuchungen in diesem größten innenpolitischen Skandal der italienischen Nachkriegsgeschichte an sich zog, obwohl der korrekte Sitz der Ermittlungen Arezzo gewesen wäre. Der Grund: In Arezzo gab es unabhängige und insofern „unzuverlässige“ Staatsanwälte, in Rom waren die Robenträger allesamt fein unter Kontrolle des Palazzo, des Machtestablishments. Konsequenz: Alle, ausnahmslos alle großen Verfahren wegen P2 wurden danach eingestellt.
Auch das von Myriam Fiorani hervorgehobene Anzienitätsprinzip (Beförderungen und Arbeitsplatzwechsel aussschließlich nach Dienstalter) hat seine dunkle Seite: Wo immer sich ein fähiger Jurist bewarb, von dem die örtlichen Notabeln Ungutes erwarteten, bewarb sich, meist im letzten Moment, noch ein Kollege mit höherer Anzienität, und der mußte dann ernannt werden. Berühmtestes Beispiel: Als 1990 der Chefkoordinator des sizilianischen Antimafiakampfes, Caponetto, in Pension ging, wäre sein kompetentester Nachfolger Giovanni Falcone gewesen, der den Antimafia-Pool faktisch aufgebaut und geleitet hatte. Doch da bewogen erschreckte Politiker und Dunkelmänner einen Uralt-Richter aus Caltanissetta zur Bewerbung – der Mann war 68 (mit 70 geht man in diesem Stand in Pension), hatte noch nie im Leben eine Ermittlung geführt – aber er hatte höhere Anzienität als der erst 50jährige Falcone und wurde damit oberster Ermittlungsrichter. „Es war der Tag, an dem Falcone zu sterben begann“, erklärte später dessen (danach ebenfalls umgebrachter) Kollege Paolo Borsellino: Die Folge der Ernennung war die faktische Zerstörung des Antimafia-Pools.
Die Willfährigkeit des CSM gegenüber politischen Forderungen und seine Halsstarrigkeit zur Änderung so lächerlicher Regeln wie der Anzienität selbst in höchstgebotenen Fällen hängt weitgehend mit einer Konditionierung zusammen, die die Parteien trotz seiner weithin gelobten Autonomie durchgesetzt haben: Der CSM ist nämlich doch weitgehend von den politischen Gruppen abhängig. Nicht nur das vom Parlament gewählte eine Drittel des Gremiums hat enge parteipolitische Bindungen – auch der Rest ist zumeist nicht frei davon. Alle größeren Parteien haben sich Richter- und Staatsanwaltsvereinigungen geschaffen, mit Hilfe derer sie ihnen nahestehende Juristen in den CSM hieven. Dies zeigte sich, als der allgemein hochgeschätzte Falcone 1991 für den CSM kandidierte – er fiel durch, die Parteien hatten rechtzeitig ihre Truppen hinter sich gebracht.
Daß der Oberste Richterrat mittlerweile so starken Flankenschutz für die Ermittler in Sachen Tangentopoli gewährt, hängt wohl auch weniger mit erneut erwachtem Unabhängigkeitsdenken zusammen, sondern eher mit dem gedrehten Wind im Volk – mit Sicherheit wären auch die großen Schmiergeldaffären in Mailand wieder bei „vertrauenswürdigen“ Richtern in Rom gelandet, hätten die Wähler nicht bei den Regionalwahlen 1991, den Parlamentswahlen 1992 und in mehreren Volksabstimmungen der herrschenden Regierungsmehrheit deutliche Abfuhren erteilt. Im Norden wurden die „Ligen“ immer stärker und forderten die Abdankung der korrupten Nomenklatura, vom Süden her kam die Antimafiabewegung immer stärker ins Spiel – im Volk wurde der Unmut bei jedem Verdacht unterdrückter Aufklärung deutlicher. Die Richter im CSM zogen den Kopf ein, Charakterstärke bewiesen sie damit kaum.
All das will sagen: das System der vollen Autonomie der Justiz ist zweifellos ein hohes Gut und in Italien in einer Weise wie sonst nirgendwo festgeschrieben. Und es ermöglicht in der Tat (im Gegensatz etwa zum weisungsgebundenen Anklagesystem in Deutschland) ein forscheres Vorgehen auch gegen „hohe Tiere“ – wenn der CSM das zuläßt, d.h. in Zeiten, in denen die Politiker schwach sind. Doch genauso gut kann dieses System zur Verbreitung des Opportunismus und der Aufrechterhaltung korrupter Machtsysteme beitragen – wie jahrzehntelang in Italien geschehen.
Auch das beste und unabhängigste Rechtssystem taugt nur dann etwas, wenn die Ermittler und Richter nicht nur autonom sein können, sondern es auch tatsächlich sind. Solange der Bürger selbst nicht dafür sorgt, daß sie diese Autonomie wahrnehmen, bleibt alles nur ein Stück Papier. Werner Raith
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