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Archiv-Artikel

REFORMPOLITIK: LIEBER UNGNADE WÄHLEN ALS DIE DEBATTE ERSTICKEN Die Mehrheit stand – aber bleibt sie?

Erfreutes Aufatmen bei der rot-grünen Regierungskoalition – die Rebellion gestern im Bundestag hielt sich in Grenzen. Die Gesundheitsreform ist verabschiedet, und Gerhard Schröder konnte die Regierungsmehrheit trotz einzelner Widersprüche zusammenhalten. Damit hat der Kanzler ein Zwischenziel erreicht. Doch ich bezweifle, dass Rot-Grün die nächsten Reformschritte überlebt. Was bei der Gesundheitsreform mit einem Säuseln begann, kann bei den anderen Gesetzen einen Sturm auslösen – und die Regierung wegfegen.

Der Bundesrat wird immer mehr zum Feld der Auseinandersetzung über die weiteren Reformgesetze. Meine persönliche Erfahrung aus der Länderkammer sagt mir, dass es der SPD außerordentlich schwer fallen wird, sich mit der Union zu einigen. Beim Zuwanderungsgesetz hat sich gezeigt, dass Rot-Grün nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft notwendige Veränderungen vorzunehmen. Bei Hartz III und IV und der Agenda 2010 müssen aus Sicht der Union zwingend Veränderungen vorgenommen werden. Diese Veränderungen werden bei Rot-Grün vermutlich zu einer kritischen Masse in den beiden Fraktionen führen. Vor allem linke Abgeordnete werden vor der Frage stehen, ob sie dem Kanzler die Mehrheit sichern oder ihren eigenen Überzeugungen folgen. Denn wenn die Änderungswünsche von CDU/CSU im Vermittlungsausschuss des Bundesrates verabschiedet werden, müssen die Koalitionsfraktionen im Bundestag erneut zustimmen. Dies wird die eigentliche Bewährungsprobe für die Bundesregierung – und da habe ich große Zweifel.

Bisher hat die SPD die inhaltlichen Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 auf Parteitagen und in der Fraktion mit dem Argument der Regierungsfähigkeit erstickt. Die verlorenen Landtagswahlen – besonders das desaströse Ergebnis in Bayern – haben die Abgeordneten aufgeweckt. Sie sorgen sich um ihre Basis, ihr persönliches Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit. Damit wird für sie die Regierungsfähigkeit nachrangig. Wie mein Vorbild, der preußische General von der Marwitz, zu Recht sagt: Wähle Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre bringt. JÖRG SCHÖNBOHM

CDU-Politiker und Innenminister des Landes Brandenburg