RALPH BOLLMANN POLITIK VON OBEN : Wahlkampf der kurzen Beine
Zweimal war die CDU zu aufrichtig, glaubt sie und sucht ihr Glück jetzt in der Lüge. Klappt das? Kleine Geschichte der Wahrheit in der Politik
Wer wissen will, warum die Unionsparteien die Bundestagswahl im September mit einer Steuerlüge bestreiten wollen, muss sich eine Szene aus dem Jahr 2003 vergegenwärtigen. Die CDU hatte den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vor einen Untersuchungsausschuss zitiert, weil er im vorausgegangenen Wahlkampf die wahre Haushaltslage verschwiegen habe. Schröders Auftritt wurde zum Debakel – nicht für den Kanzler, sondern für die CDU. Das Publikum feierte den SPD-Mann für den Mut, mit dem er in der „Agenda 2010“ sämtliche Wahlversprechen wieder einsammelte.
Aus der Erfahrung mit dem „Lügen-Ausschuss“ zog Merkel erst die falsche Konsequenz. Sie redete im Wahlkampf 2005 offen über Mehrwertsteuer und Kopfpauschale. Sie wollte es anders machen als Schröder – und wäre dadurch fast gescheitert.
Der Florentiner Niccolò Machiavelli lehrte schon vor einem halben Jahrtausend, erfolgreiche Politiker müssten „in Heuchelei und Verstellung ein Meister sein“. Später erklärte der SPD-Politiker Egon Bahr, in der Politik solle die Wahrheit gesagt werden – „wenn möglich“. Aber wo ist Wahrheit möglich oder nötig?
Bei Fakten gilt die Regel: Verschweigen ist erlaubt, lügen nicht. Das gilt selbst in den Fällen, in denen die Lüge offensichtlich ist. So war in den USA die Empörung über das Eingeständnis der Bush-Regierung groß, der Irak habe anders als behauptet gar keine Massenvernichtungswaffen besessen. Die meisten Kundigen hatten das ohnehin nie geglaubt, trotzdem wirkte die Lüge wie politisches Gift. Wenn es um bloße Einschätzungen oder Ankündigungen geht, gelten Konsequenz und Konsistenz keineswegs als politische Tugenden. Wer allzu penetrant auf Worttreue beharrt, gilt schnell als politischer Naivling. Umgekehrt wurde Merkel zu Jahresbeginn etwa für ein Konjunkturprogramm samt Abwrackprämie gefeiert, das sie kurz zuvor noch abgelehnt hatte.
Ganz schlimm wird es, wenn die Täuschung des Publikums in eine Selbsttäuschung der Politiker umschlägt. Als sich die SPD des Vorwurfs erwehren musste, sie habe die Wähler 1972 mit dem Versprechen eines nahenden Aufschwungs getäuscht, schrieb der Journalist Rolf Zundel: „Die Machiavellisten wissen wenigstens, dass sie lügen; sie kennen die Wahrheit.“
Hoffen wir, dass die CDU an ihre Wahlversprechen selbst nicht glaubt.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Archiv