RALPH BOLLMANN POLITIK VON OBEN : Die armen, armen Sozialdemokraten
Freunde, Bekannte, Kollegen: Fast alle wollen sie diesmal SPD wählen. Aus Mitleid. Aber ist Mitleid eine politische Kategorie – oder was steckt sonst dahinter?
Das Wahlgeheimnis war für meinen Vater eine ernste Sache. Nachfragen, welcher Partei er diesmal seine Stimme gegeben habe, beantwortete er meist ausweichend. Wechselwähler war er wohl, so viel ging aus seinen Antworten hervor. Umso besser erinnere ich mich an die einzige Ausnahme. Es muss die Wahl im Januar 1987 gewesen sein, als Johannes Rau für die SPD um die absolute Mehrheit kämpfte und sein Parteichef Willy Brandt verlauten ließ, 43 Prozent seien doch auch „ein schönes Ergebnis“.
Damals beantwortete mein Vater die Frage nach seinem Votum nicht nur, er versah sie sogar mit einer Erläuterung. „Die SPD. Aus Mitleid“, erklärte er.
Ich hatte das Bonmot schon fast vergessen, bis im aktuellen Wahlkampf das begann, was man gewohnheitsmäßig die heiße Phase nennt. Die Frage, was man denn nun wählen solle, wurde nun auch unter Freunden, Bekannten und Kollegen debattiert. Und was kam dabei heraus? „Die SPD. Aus Mitleid“, sagten sie fast alle. Es waren vor allem bisherige Grünen-Wähler. Einige hatte ich allerdings auch als Linken-Anhänger oder als CDU-Sympathisanten im Verdacht.
Auch im politischen Berlin schien es vielen so zu gehen wie damals meinem Vater. Nicht dass CDU-Politiker öffentlich verkündeten, sie wollten die Zweitstimme ihrem derzeitigen Koalitionspartner schenken. Aber etwaige Häme über die SPD sparen sie sich für Pflichtauftritte vor den Fernsehkameras auf. Im persönlichen Gespräch zeigen sie sich über den Zustand der politischen Konkurrenz aufrichtig besorgt. Nicht zuletzt, weil er zumindest den Nachdenklicheren als Menetekel der eigenen Zukunft erscheint.
Ist Mitleid aber im Ernst eine politische Kategorie? Natürlich nicht. Sonst hätte Dieter Althaus, der seit seinem Skiunfall offenkundig nicht mehr recht bei Sinnen war, die Landtagswahl in Thüringen haushoch gewinnen müssen. Als Grüne oder FDP noch regelmäßig an der Fünfprozenthürde scheiterten, half das keineswegs fürs nächste Mal.
Die Leute, die jetzt Mitleid vorschützen, haben in Wahrheit ziemlich rationale Gründe. Die einen halten die Demokratie nur für funktionsfähig, wenn es zwei annähernd gleich starke Volksparteien gibt. Die anderen glauben, dass die Interessen kleiner Leute bei der SPD am Ende doch besser aufgehoben sind als bei Union und FDP. Wieder andere schätzen die Tradition der ältesten deutschen Partei und wollen nicht, dass sie jetzt untergeht.
So etwas traut sich aber kaum jemand zu sagen. Niemand steht gern auf der Seite der Loser, und wenn doch, bekennt man sich nur ungern dazu. Bei Wahlen regiert oft das Gesetz der Serie, Verlierer werden einfach nicht gewählt. Deshalb gilt Mitleid offenbar als das einzige Motiv, das die Wahl einer darniederliegenden Partei noch zu rechtfertigen vermag. Man signalisiert mit diesem Argument: Ich bin doch nicht naiv, die Lage ist mir wohl bewusst.
Womöglich wurde die SPD zuletzt bei Umfragen auch deshalb manchmal unterschätzt, weil das Bekenntnis zu ihr vielen Leuten inzwischen fast so peinlich ist wie ein Votum für die Outcasts vom politischen Rand. Den Ergebnissen der offiziellen Demoskopie jedenfalls widersprechen die Ergebnisse meiner Privatumfrage diametral. Wobei ich allerdings zugeben muss: Die Stimme meines Vaters half der SPD damals nur bedingt. Am Ende kamen 37 Prozent heraus. Ein schönes Ergebnis, aus heutiger Sicht.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Archiv