RAINER SCHÄFER RADIKALE WEINE :
Baby – so tauften die Mitarbeiter im Hattenheimer Weingut ihren Weinberg im Hallgartener Hendelberg. Als sie ihn 2007 durch einen Zufall übernehmen konnte, war er verwildert und vollständig mit Brombeerhecken und Gestrüpp überwuchert. Baby musste mühsam davon befreit werden. Es war ein Sorgenkind und wollte erst einmal umsorgt und aufgepäppelt werden, bevor überhaupt an eine Traubenernte zu denken war. Benachbarte Winzer reagierten auf so viel Aufwand und Fürsorge mit Befremden und Unverständnis: Der Weinberg war vor über 30 Jahren mit Müller-Thurgau bepflanzt worden – in einem Anbaugebiet, dem Rheingau, in dem der Riesling dominiert. Müller-Thurgau gilt als Mauerblümchen und ist eine in Deutschland gemeinhin gering geschätzte Rebsorte, was vor allem daran liegt, dass sie lange Zeit als Massenträgerin ausgebeutet wurde. Gelegenheit, ihre Qualitäten zu zeigen, bekam sie selten. Zugegeben, ihr Name, der auf den Schweizer Botaniker Hermann Müller aus dem Kanton Thurgau verweist, klingt wenig aufregend. Unter kompetenten Winzerhänden und am richtigen Platz wie im Hallgartener Hendelberg lassen sich daraus aber charaktervolle Weine erzeugen. „Der Weinberg liefert wegen seines hohen Alters kleine, hoch aromatische Beeren“, sagt Gutsverwalter Tim Lillienström. Sie werden von Hand gelesen und mit den eigenen Hefen vergoren. Danach wird Baby im französischen Barrique ausgebaut. Damit verstößt das Hattenheimer Weingut gegen eine weitere Grundregel: Müller-Thurgau wird landauf, landab im Edelstahl zum unkomplizierten Zechwein ausgebaut, das kleine Eichenfass bleibt den vermeintlich edleren Rebsorten vorbehalten. Aber Lilienströms Tabubruch zahlt sich aus: Im Glas duftet Baby appetitlich nach Blumenwiese und Bratapfel; es ist ein seriöser, burgundisch anmutender Weißwein mit Substanz und feinem Schliff, der wegen der geringen Erntemenge in 0,5-Liter-Flaschen abgefüllt wird. Baby ist kein Mauerblümchen, sondern ein überraschender Müller-Thurgau der neuen Generation, der alle Vorurteile widerlegen kann, die dieser Rebsorte anhängen.
■ Müller-Thurgau Baby, 2012, Weingut Georg Müller Stiftung, 11,80 Euro, Bezug über www.georg-mueller-stiftung.de