„Politik ist grau, hässlich und langsam“

Viele Deutsche sind demokratiemüde, sagt eine aktuelle Studie. Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse über die Mühsal seines Geschäfts, die Vorteile von Langsamkeit in der Demokratie und das Gehetze der journalistischen Rudel

WOLFGANG THIERSE, 64, ist Vizepräsident des Bundestags. In der DDR arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften.

taz: Herr Thierse, leistet die Politik heute noch gute Arbeit? Wolfgang Thierse: Eine schlechtere Politik als früher kann ich beim besten Willen nicht erkennen; auch die Verantwortlichen halte ich für kompetent. Allerdings haben wir neue, vielschichtige Probleme, auf die der Nationalstaat alleine nicht mehr ausreichend reagieren kann. Wir haben einen Zustand der Unübersichtlichkeit in der Welt, aber wir sind dabei, eine neue Ordnung zu schaffen.

In einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vertritt ein Drittel der Befragten die Ansicht, Demokratie könne die Probleme nicht lösen.

Natürlich leben wir in einer Welt dramatischer Veränderungen: Globalisierung, demografischer Wandel, der schwierige Umbau des Sozialstaats, um nur einige zu nennen. Diese Problemfülle erzeugt bei den Menschen tiefe Verunsicherung. Doch leider hat die Politik keine einfachen Lösungen parat. Politik ist eine Sphäre der Mühsal, grau, hässlich und langsam. Doch ich lobe die Demokratie für ihre Langsamkeit.

Das müssen Sie erklären.

Nur die Langsamkeit garantiert die Beteiligung vieler Personen und Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen und Interessen, ein Grundelement jeder ordentlichen Demokratie

Doch der Eindruck bleibt: Politik und Bürger entfernen sich voneinander.

Wissen Sie, als normaler Politiker stelle ich mich natürlich der Kritik des Bürgers. Ansonsten würde ich meinen Job schlecht machen, wäre faul – das möchte ich den meisten meiner Kollegen nicht unterstellen. Allerdings sind wir auf mediale Berichterstattung, vermittelnde Journalisten angewiesen, und da liegt der Hund begraben.

Geben Sie also den Medien die Schuld an der Misere?

Auf keinen Fall kollektiv. Doch viele Massenmedien sehen nur ihr Geschäft. Ich beobachte seit Jahren einen Trend zur Personalisierung, zur Skandalisierung, zur Hysterisierung. Es herrscht ein Kammerton der Häme und der Ungeduld. Außerdem ist das Meinungsspektrum in Deutschland nicht groß genug, journalistisches Rudelverhalten nimmt zu.

In Berlin herrscht doch ein sehr konstruktiver Wettbewerb, besonders im Zeitungsjournalismus.

Kaum ein Journalist hat genug Zeit, ausführlich zu recherchieren. Alles verkommt zu einem Gehetze, und Hauptsache, es wird draufgehauen.

Trotzdem stehen die Studien zur Demokratiemüdigkeit weiter im Raum, und diese sind keine Erfindung der Medien.

Das ist mir durchaus bewusst. Aber was folgt aus einem Journalismus nach dem Motto: Nur schlechte Nachrichten verkaufen sich gut. Der Großteil meiner Kollegen arbeiten 60 bis 70 Stunden die Woche, besuchen Veranstaltungen und sprechen immer wieder mit den Bürgern. Leider erreichen wir hiermit lediglich 1 bis 2 Prozent unserer Wähler direkt. Beim Rest sind wir wieder auf die Medien angewiesen. Doch diese prägen meist das Bild des bürgerfernen Politikers …

das auch zum Teil Zuspruch aus der Wissenschaft erhält. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim spricht von einer neuen Souveränität der politischen Klasse, die die Volkssouveränität aufhebt.

Dabei ist er selbst ein Teil der beschimpften politischen Klasse.

Sie sehen unsere Demokratie nicht in Gefahr?

Ich sehe beunruhigende Tendenzen. Bislang war die Demokratie, insbesondere im Westen, eine Erfolgsgeschichte, verbunden mit persönlichem Aufstieg und Wohlstand. Jetzt erscheint die Zukunft ungewiss, die Unzufriedenheit an der Basis wächst, und auch die Wirtschaftseliten wenden sich teilweise ab. Es kann alles schiefgehen, und dann stehen die Populisten links und rechts bereit. Doch ich weiß, dass die Mehrheit der Deutschen trotz aktueller Unzufriedenheit tiefe demokratische Grundeinstellungen besitzt. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich: Diktaturen funktionieren nicht, Demokratien dagegen schon.

Gilt das auch für Ostdeutschland?

Die Menschen hier sind verunsicherter, wurden enttäuscht. Sie haben noch nicht so viel Hornhaut bilden können. Soziale Gerechtigkeit ist und bleibt eines der wichtigsten Ziele von Politik. Am wichtigsten bleibt aber: Demokratie als das politisches Regelwerk der Freiheit. Dafür muss man einstehen, gerade in schwierigen Zeiten. INTERVIEW: SEBASTIAN KEMNITZER