: Perestroika steht zur Debatte
■ Auf der ersten Allunions-Konferenz der KPdSU seit 1941 soll über Gorbatschows Reformkurs entschieden werden
Moskau (afp) - In Moskau beginnt heute die mit Spannung erwartete Allunionskonferenz der KPdSU, der entscheidende Bedeutung für die Zukunft des Reformprogramms von Generalsekretär Michail Gorbatschow eingeräumt wird. Die rund 5.000 Delegierten werden vor allem zehn vom Zentralkomitee formulierte Thesen beraten, die aufsehenerregende Vorschläge wie eine Begrenzung der Amtszeit sämtlicher gewählter Parteifunktionäre auf zehn Jahre beinhalten. Von dieser Regelung wäre auch Gorbatschow betroffen.
Überschattet wird die Parteikonferenz von der brisanten Frage der Minderheiten-Konflikte. Armenier, Krimtartaren und Balten machen ihre Ansprüche in den letzten Wochen mit Streiks und Demonstrationen geltend. Die Delegierten der Parteikonferenz, die in - teilweise angezweifelter geheimer Wahl landesweit bestimmt worden waren, sollen in Moskau die Leitlinien der sowjetischen Innenpolitik für die nächsten Jahre festlegen. Die dafür ausgearbeiteten ZK -Thesen sehen neben der Mandats-Regelung noch vor, die Rolle der Partei in Verwaltung und Wirtschaft einzuschränken und gleichzeitig die Sowjets (Parlamente) der Republiken einschließlich des Obersten Sowjets im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses zu stärken. Bei einer Verabschiedung der Thesen, die nach Einschätzung von Beobachtern nicht gesichert ist, wären sogar Änderungen in der sowjetischen Verfassung von 1977 nötig. Gorbatschow wird die Parteikonferenz mit einer voraussichtlich mehrstündigen Grundsatzrede eröffnen, die das sowjetische Fernsehen live überträgt. Wie lange die 19. Allunionskonferenz der KPdSU die erste seit 1941 - dauern wird, steht noch nicht fest. In Moskau rechnet man mit mehrtägigen, hitzigen Debatten, die auf einen offenen Schlagabtausch zwischen Befürwortern und Gegnern des Gorbatschow'schen Reformprogramms hinauslaufen werden. Von den Debatten ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Wichtige personelle Änderungen sind von der Parteikonferenz nicht zu erwarten. Der Chefredakteur der sowjetischen Parteizeitung 'Prawda‘, Viktor Afanasijew, hat gestern eingeräumt, daß es bis in höchste Führungskader der Partei „hitzige Debatten“ über den Reformkurs von Kremlchef Michail Gortbatschow gibt. Über die Notwendigkeit von Reformen sei man sich zwar einig, in der Frage des „Umfangs, der Richtung und der Bedeutung“ jedoch gingen die Meinungen selbst im Politbüro auseinander, sagte Afanasijew vor Journalisten in Moskau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen