PRESS-SCHLAG : Neu in der Württemberger Schule
HELDEN Papiss Cissé ist eine Anomalie: Der erste Freiburger Stürmer, der tatsächlich Tore schießt
Ausgerechnet in dem Moment, da Rolf Töpperwien, Fernsehreporter der Superlativen, sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedete, erleben wir nun das außergewöhnlichste Ereignis in 47 Jahren Bundesliga: Ein Freiburger Stürmer ist alleiniger Spitzenreiter der Torschützenliste. (Sieht man von 1999 ab, als der SC-Stürmer Adel Sellimi auch mal Spitzenreiter war.)
Papiss Demba Cissé hat nach sechs Spieltagen bereits sechs Tore für den SC Freiburg erzielt. Wo doch, glaubt man einem alten Vorurteil, Freiburger Stürmer nie oder fast nie Tore schießen. Zum Vergleich: Freiburgs bester Torschütze Idrissou hatte im Vorjahr am Ende 9. Der All-time-Torjäger Iashvili brauchte für seine 29 Tore 147 Spiele (Das ist ein Schnitt von 0,19 Toren pro Spiel).
Wie kommt es, dass Cissé so häufig trifft? Und trifft er heute gegen den 1. FC Köln erneut?
Zunächst muss man sagen, dass es für Freiburg mit drei Siegen in sechs Spielen gut läuft – und einschränken, dass sechs Spiele zu wenig für Grundlegendes sind. Der erwähnte Sellimi (Prädikat: „Adel verpflichtet“) kam nach 9 Vorrunden-Toren am Ende nur auf 11.
Generell war der Freiburger Mittelstürmer der Gegenentwurf zum klassischen Mittelstürmer-Verständnis. Urvater ist Uwe Spies, der Mittelstürmer des Aufstiegsjahrs 1993, den Trainer Volker Finke die „Drehscheibe“ nannte. Finkes hierarchieflacher Kombinationsfußball hatte den Heldenfußballer ausdrücklich abgeschafft. Spies war der moderne, altruistische Stürmer, der rannte und machte, damit die anderen die Tore schießen konnten. Der Torschütze war im Freiburger Denken immer nur der Spieler, der den letzten Laufweg beigesteuert hatte. Einzige Ausnahme: der Strafraumstürmer Harry Decheiver (17 Tore in 41 Spielen): ein guter Fußballer, aber mit begrenztem Laufvermögen und Speed. Decheiver wurde in Freiburg Popstar – und der SC stieg ab.
Mit Robin Dutt spielt Freiburg heute einen anderen Fußball als zu Finkes Zeiten, wo man an jeder Stelle des Platzes Ballbesitz durchsetzen wollte. Auch wenn man zuletzt die Ballbesitzzeiten erhöht hat: Tendenziell spielt man gegen den Ball, wie das die derzeit in Deutschland führende „Württemberger Schule“ so an sich hat, zu der neben dem Dortmunder Klopp (gebürtiger Stuttgarter), dem Hoffenheimer Rangnick (Ex-VfB-Jugendleiter) und dem Mainzer Tuchel (Rangnick-Schüler) eben auch Dutt (Ex-Trainer der Stuttgarter Kickers) gehört.
Cissé ist in Dutts 4-1-4-1 der einzige Stürmer und der Spieler, auf den die Angriffe zulaufen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er zu Chancen kommt. Er ist groß, technisch begabt und kann und muss viel laufen, um mit dem Rücken zur Abwehr die Bälle abzuholen und zu sichern, bis die Kollegen nachgerückt sind. So gesehen ist er auch ein klassischer Freiburger Stürmer. Sein Kapitän Heiko Butscher sagt zudem, er sei „klar im Kopf“, was im Fachjargon als maximales Lob zu verstehen ist. Wenn das so sein sollte, wäre er der geerdete Teamplayer, von dem andere oft nur reden. Und die Gefahr gering, dass er trotz der vermutlich auf ihn zukommenden Wechselangebote die Klarheit im Kopf verliert.
Cissé ist 25 und senegalesischer Nationalspieler. Er kam Anfang des Jahres vom französischen Zweitligaklub FC Metz. Nimmt man die vergangene Rückrunde dazu, kommt er in 22 Bundesligaspielen auf 12 Tore. Das relativiert die derzeitige Quote, stützt aber die Annahme, dass er den Freiburger All-time-Saisonrekord brechen könnte. Der steht seit 1995 bei 13 Toren. Gehalten wird er von dem Stürmer, der angeblich nie Tore schoss: Uwe Spies. PETER UNFRIED