piwik no script img

Archiv-Artikel

PRESS-SCHLAG Emporkömmlinge mit Chuzpe

REVOLUTIONÄRE Wie Jürgen Klopp und Thomas Tuchel die göttliche Fußballordnung kippen

Der Mensch oder der Fußballklub ist auf sich allein gestellt

Gemäß der göttlichen Fußballordnung haben Klubs mit glanzvoller Vergangenheit ein Anrecht auf eine ruhmreiche Gegenwart; Emporkömmlinge aber keinesfalls. Es ist daher richtig, dass Borussia Dortmund fast ganz oben steht – aber falsch, dass Mainz 05 Tabellenführer ist. Dortmund ist ein Traditionsverein, und der FSV Mainz ist ein Karnevalsverein. Göttliche Ordnung herrschte, wenn der 1. FC Köln Tabellenführer wäre. Köln ist zwar auch ein Karnevalsverein, war aber früher immer Erster. Oder doch zumindest 1978, 1964 und 1962. Jetzt ist Köln Letzter, was die Gottlosigkeit unserer Zeit ja wohl eindrücklich demonstriert.

Tja: Der Mensch oder der Fußballklub ist auf sich allein gestellt – und noch immer tun sich speziell die vergangenheitsfixierten Anhänger und Funktionäre von erfolglosen Traditionsklubs (und übrigens auch von Traditionsparteien) schwer, damit umzugehen, dass die neue Ordnung die logische Folge ihrer aktuellen Arbeit ist.

Womit nichts gegen Tradition gesagt sein soll.

Große Tradition bedeutet in der Regel größere emotionale Bindung an mehr Menschen, größere Erlösmöglichkeiten, höhere Gehälter und damit eine größere Chance, auch in der Gegenwart Erfolg zu haben. Im Umkehrschluss bedeutet es allerdings, dass es schmählich ist, wenn diese privilegierten Klubs unternehmerisch so agieren, dass sie andere Klubs mit weniger Tradition und weniger Erlösmöglichkeiten an sich vorbeiziehen lassen müssen.

Das heißt: Mainz 05 ist derzeit Tabellenführer, weil man grundsätzlich viel richtig und weil andere grundsätzlich oder temporär etwas falsch gemacht haben. Und Borussia Dortmund ist offenbar wieder ein Spitzenklub, aber nicht weil man Tradition hat, sondern weil man eine Tradition überwunden hat, die den Klub fast gekillt hätte. Die Tradition der Meister- und Nachmeisterjahre bestand ja darin, dass man Spieler aus Hochpreismärkten kaufte, wenn sie auf dem Höhepunkt ihres Marktwertes waren – um sie dann später für viel weniger Geld zu verkaufen. Klar, dass das unternehmerisch nicht gut gehen kann und auch identitätsmäßig fatal war.

Am Sonntag treffen Mainz und Dortmund aufeinander. Wenn man sich von der nostalgischen Vergangenheitsfixierung verabschiedet, wird man sehen, dass die beiden Klubs zwar mittelfristig unterschiedliche Möglichkeiten haben, aber dennoch sehr viel miteinander zu tun. Beide haben – im Gegensatz zu Köln, Stuttgart oder Wolfsburg – einen klar erkennbaren Brand entwickelt. Er besteht aus einer Fußballidentität, einem Personal- und Erlöskonzept, einer wiedererkennbaren und zum Klub passenden Außendarstellung. Personifiziert wird das jeweilige Konzept durch die beiden Trainer Jürgen Klopp (BVB) und Thomas Tuchel (Mainz). Beide sind Vertreter der Württemberger Schule, die auf einem sehr laufintensiven und sehr engagierten Spiel gegen den Ball beruht. Beide haben den grundsätzlich defensiv orientierten Fußball offensiv weiterentwickelt; Tuchel den seines Vorvorgängers Klopp etwas mehr, Klopp seinen im Vergleich zu früher auch, aber im Vergleich zu Tuchel vielleicht etwas weniger.

Beide Klubs haben – im Gegensatz zu anderen – eindeutig die richtige und aus mehrerer Hinsicht zum Klub passende Personalentscheidung getroffen. Während manche wie jetzt Köln ihre Trainer aus Ratlosigkeit oder Verzweiflung zu opportunistischen Zeitpunkten rauswerfen, hat der Mainzer Manager Heidel den falschen Trainer (Jörn Andersen) vergangenen Sommer vor Saisonbeginn entlassen, weil der die Identität des Klubs gefährdete.

Das war mutig und genauso wegweisend wie die Verpflichtungen von Klopp (2001) und Tuchel (2009). Mainz hat damit die Basis geschaffen, um ein Traditionsverein der Zukunft zu werden. Keiner, der Meister wird. Aber einer, der langfristig in den deutschen Top 25 mitspielt. Das ist eine historische Leistung. Köln wird freilich immer in den Top 25 verbleiben, auch wenn sie weiterhin Fehler sonder Zahl machen. Was seit Jahren rauskommt, ist historisches Versagen. Und Dortmund? Klopp hat unlängst gesagt, er und sein Team hätten ihre „eigenen Erinnerungen geschaffen“, um sich damit zu motivieren. In einer Saison, in der niemand sagen kann, wer Meister wird, könnte die gewaltigste Erinnerung in der Zukunft liegen. PETER UNFRIED