PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH : Mein Leben mit Dr. Wladimir Klitschko
Tiefschläge wirken sich sehr unterschiedlich aus – je nachdem, ob der betroffene Boxer aus Kiew oder Stuttgart kommt
Mein Leben mit Dr. Wladimir Klitschko beschränkt sich auf zwei Begegnungen, die allerdings sehr einseitig verliefen. Das erste Mal, als Herr Klitschko in mein Leben trat, waren er und sein Bruder so bekannt wie die Marienkapelle von Paderborn. Also so gut wie gar nicht. Auch ich hatte noch nie von einem Boxer dieses Namens gehört, als Attila mich Anfang der 90er-Jahre eines Abends auf das Stuttgarter Messegelände mitnahm. Dort fand ein Boxkampf statt, für den ich fünf Mark Eintritt bezahlte. An jenen Betrag erinnere ich mich noch deshalb so genau, weil er mir im Nachhinein sehr viel vorkam. Denn der Boxkampf dauerte nur ungefähr sieben Sekunden. Als der Gegner von jenem unbekannten Herrn Klitschko in die Knie ging, kaum dass der Kampf überhaupt angefangen hatte, schrien alle „Schiebung“ und wollten ihre fünf Mark Eintritt zurück. Nur mein Freund Attila schwieg. „Das war keine Schiebung“, erklärte er mir später, „dieser Boxer ist eine Sensation. Der hat einen Schlag, den überstehst du nicht.“
Attila wusste, wovon er sprach. Attila, der im bürgerlichen Leben Claus Parge heißt, war selbst Berufsboxer im Schwergewicht und also vom Fach. Da ich selbst eher von schwächlicher Natur bin, hatte ich es mir seit Kindergartentagen angewöhnt, in meinen Freundeskreis mindest zwei, drei sehr gut gebaute Freunde aufzunehmen, die mir in schweren Stunden zur Seite stehen konnten.
Aber nicht nur seines Körperbaus wegen war Attila mir lieb geworden. Unter seiner Brustmuskulatur schlug ein gutes Herz. Ob das nun alle so sahen, die mit ihm zu tun hatten, als er in Stuttgart noch der „König des Rotlichtmilieus“ genannt wurde, weiß ich nicht. Eigentlich hätte es ja besser „Rotlichtmilleule“ heißen müssen, so klein, wie es war. Egal. Ich jedenfalls kann nur Gutes über Attila berichten.
In seinem Boxclub im Hinterhof eines heruntergekommenen Hauses hatte ich lange Zeit mein abendliches Wohnzimmer aufgeschlagen. Drei Tische, eine Theke und der Ring. Stuttgart by night – ein Grund, diese Stadt zu lieben. Leider verkehrten dort auch dunkle Gestalten. Die Polizei in Zivil, zum Beispiel. Ein solcher Mensch bequatschte Attila so lange um ein wenig Kokain, bis Attila, der, wie gesagt, eine gute Seele war und ist, nachgab und ihm den Stoff besorgte. Das nächste Mal, als ich ihn traf, war im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. Ich brachte ihm Schokolade mit. Attila bedankte sich und sah traurig aus.
In jenen Jahren, in denen Attila seine Strafe absaß, wurden die ukrainischen Brüder Klitschko berühmt. Der Sieben-Sekunden-Kampf in der Stuttgarter Messehalle war nur der Anfang einer großen Boxerkarriere. Es war also nicht weiter verwunderlich, dass die zweite Begegnung mit Dr. Wladimir Klitschko nicht mehr in einem stickigen Umkleideraum einer abgemeierten Messehalle, sondern im VIP-Raum eines internationalen Flughafens stattfand.
Okay, es war nur der Flughafen von Kiew, aber auch dort bietet man den wichtigen Reisenden anstatt einer Plastikschale in der Wartehalle einen Plüschsessel im abgetrennten Bereich an. Ich an der Seite des Münchner Sozialamtsleiters, der gerade eine erste Rate an Wiedergutmachungszahlungen für ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter abgeliefert hatte, und im nächsten Plüschsessel der Boxer Klitschko, der den Deutschen zeigte, was ein rechter Haken ist.
Mir kam das alles so symbolisch vor, und ich grüßte Herrn Klitschko mit Hochachtung. Er konnte sich schon nicht mehr an Stuttgart und seine hässliche Messehalle erinnern. Trotzdem bot er mir an, mir meine fünf Mark zurückzugeben. Das fand ich sehr großzügig, zumal ich heute weiß, dass die Brüder Klitschko von ihrem Boxstall „Universum“ nur so über den Tisch gezogen wurden. Von den Siegprämien bekamen sie am Anfang ihrer Karriere gerade mal sechs Prozent.
Was für Tage, dieser Tage: Klitschko am Boden, Attila nach seiner Entlassung irgendwo untergetaucht. Ich fühle mich ungeschützt.
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