PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH : Die geerbte Cousine
Erben ist meist eine Last. Was bin ich froh, nur einen Stuhl und zehn Seiten Papier von meinem Großvater zu besitzen
Der Großerbe Alexander Falk, 35, sitzt auch nach mehr als 14 Monaten noch immer in Untersuchungshaft. Die 50 Millionen Euro, die ihm der Verkauf seines väterlichen Landkartenverlages einbrachte, waren ihm nicht genug. Er wollte mehr. Nun wird ihm Betrug in Millionenhöhe vorgeworfen.
Das Erbe meines Großvaters bestand aus einem Schreibtischstuhl (Eiche) mit runder Rückenlehne und braunem Lederkissen. Das Lederkissen ließ ich aufpolstern, so hält der Stuhl noch einmal hundert Jahre. Von weiterem Besitz, auch entfernter Verwandter, ist mir nichts bekannt. Ja, doch, halt, da sind noch diese zehn Seiten eng bekritzeltes Papier. Mein Großvater hatte, weil am Ende 101 Jahre alt, sehr viel Zeit, um die Verwandtschaftsbeziehungen in allen Verästelungen und bis ins späte Mittelalter hinein nachzuverfolgen und in winziger Schrift aufzuschreiben. So weiß ich heute, dass ich mit dem vor einer Woche 200 Jahre alt geworden wärenen (neudeutsch!) Dichter Eduard Mörike verwandt bin. Das ist mir mehr wert als ein Reiheneckhaus in Varel.
In schweren Stunden, wenn die Tage wieder kürzer werden und Herr Simbek von der Bank anruft, um mich an die Einhaltung des vereinbarten Überziehungsrahmens zu erinnern, blättere ich in Großvaters Gekritzel. „Maußhardt Jakob, Müllermeister in Dürrmenz bei Mühlacker“, lese ich da oder : „Daubenhauer Johann, Klosterhofmeister geb. 1578“. Manche Einträge lassen sich kaum entziffern, so klein sind sie: „Hans Schneider, am 22. 8. 1693 beim zweiten franz. Einfallkrieg im Wald erschossen.“ Mein Gott, denk ich dann, die hatten es damals auch nicht leicht, und dann geht es mir wieder besser. Es gibt Menschen, die wissen nicht einmal mehr, wie ihre Großeltern mit Vornamen hießen. Traurig das.
Vor zwei Jahren kam aus Amerika ein echter Brief mit Umschlag und Briefmarke. In schlechtem Deutsch aber in freundlichem Ton fragte eine Margaret Mausshardt aus St. Louis/Missouri, ob es sein könnte, dass wir verwandt seien. Ihr Großvater habe Henry geheißen und dessen Vater Carl. Ich sah Großvaters Gekritzel durch und konnte wenige Tage später nach Missouri melden: Mission completed – Mission erfüllt – Carl war der Sohn eines anderen Carl, der 1860 in die USA auswanderte, dessen Vater Jakob wiederum … aber die Details erspare ich hier. Margaret ist jedenfalls eine Cousine vierten Grades.
Seither besitze ich also eine Tante in Amerika. Natürlich habe auch ich mir die Frage gestellt, die sich an dieser Stelle alle stellen: Ist sie reich? Auf dem Foto, das sie mir schickte, sieht man ein kleines Farmhaus, eine Wiese und dahinter den Waldrand. Ab und zu käme ein Reh vorbei, schrieb sie dazu, das würde dann von ihrem Mann von der Terrasse aus mit einem Gewehr geschossen. Ja, so geht es zu in Missouri. Wir mailen uns regelmäßig, meist in Englisch. Zu Weihnachten habe ich ihr eine Kuckucksuhr geschickt und angedeutet, dass ich einmal vorbeikommen werde.
Die Uhr fand sie putzig, die Idee weniger. Ich solle nichts überstürzen. Sie wären auf Gäste nicht vorbereitet. Man müsse sich doch erst einmal etwas kennen lernen durch Briefe. Mit Ausländern hätten sie keine Erfahrung. Einmal sei ein Austauschschüler aus einem anderen US-Bundesstat bei ihnen gewesen. Mehr nicht. Sie selbst habe die Staaten noch nie verlassen. Dann folgte der entscheidende Satz: Außerdem sei ich wahrscheinlich reich und sie nicht, und das mache die Angelegenheit nicht einfacher.
Gut, warte ich eben noch eine Weile. Tauschen wir noch eine Zeit lang Apfelkuchenrezepte aus, und vielleicht lege ich ihr einfach meinen nächsten Kontoauszug als Anhang in die Mail. Das könnte helfen. Irgendwann werde ich Margaret jedenfalls treffen, meine geerbte Cousine. Es waren nur zehn Seiten Gekritzel. Aber ich sitze nicht in Untersuchungshaft. Ich sitze auf einem Eichenstuhl. Wenig kann oft mehr bedeuten.
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