PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH : Waldweihnachten auf dem Dach
Mein Fahrzeug hatte sich an Heiligabend überschlagen – und dann kam das Christkind
Selbstverständlich halte ich mich für einen guten Autofahrer. Vielleicht sogar für einen der besten Autofahrer überhaupt. Rund 750.000 Kilometer gefahren in den vergangenen dreißig Jahren, macht fast zwanzig Mal um die Welt. Und nur drei Unfälle gebaut, jedenfalls die erwähnenswerten. Statistisch ein guter Schnitt: alle 250.000 Kilometer ein kapitaler Blechschaden. Das kann sich sehen lassen, finde ich. Der erste echte Unfall mit dem eigenen Gefährt geschah frühmorgens auf der Autobahn bei Mailand. Im dicken Nebel und müde von der langen Fahrt hatte ich eine Mautstelle übersehen. Wie eine Mauer tauchte sie plötzlich vor mir aus dem Nebel auf. Die Tachonadel zeigte 120. Ich sehe noch die Hand, die aus der Fensterscheibe eines Kleinwagens gerade das abgezählte Kleingeld reichen will – dann krachte es fürchterlich, und es gab einen Fiat Punto weniger auf der Welt: Totalschaden. Aber – Dio buono – niemand verletzt.
Dann war alles jahrelang gut gegangen. Und ich hatte die Möglichkeit fast schon ausgeschlossen, dass es noch einmal richtig scheppern könnte. Auch, dass es zwischen Hof und Plauen auf der Autobahn A 72 passieren würde, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Die Strecke fahre ich selten, und an jenem frühen Septembermorgen letzten Jahres wäre es auch besser gewesen, ich hätte weitergeschlafen – im Bett und nicht am Steuer. Einzuschlafen am Steuer auf der Überholspur scheint mir sowieso nicht logisch. Wenn schon, dann rechts auf der Kriechspur und ab in den Graben. Erst der Bordstein einer Autobahnbrücke weckte mich unsanft. Aber – Gott sei Dank – niemand verletzt.
Rein statistisch wäre der nächste Unfall erst in einigen Jahren zu erwarten gewesen, und dann vielleicht mal direkt vor der eigenen Haustüre. Und hätte ich mir auch noch einen passenden Tag dafür wählen dürfen, ich hätte mir bestimmt nicht Heiligabend ausgesucht.
So aber steuerte der russische Geländewagen, zunächst noch völlig unter Kontrolle, am 24. Dezember den steilen Waldweg hinauf, obwohl der Untergrund ein wenig vereist war. Und das in der Toskana! Da hätte man auch zu Hause bleiben können. Trotz des kalten Wetters waren die beiden Frauen und das sechs Monate alte Baby guter Dinge. Ich hatte noch gesagt: „Anschnallen muss sich hier niemand, wir fahren nur ein Stück durch den Wald.“ Dann geschah das Unfassbare, was der Philosoph Theodor Adorno „das Prinzip der Umkehrung“ nannte. Der Wagen rutschte auf dem Eis gegen einen Hang und überschlug sich.Wer schon einmal auf dem Dach in einem Auto lag, vielleicht sogar an Weihnachten, der weiß, wie besinnlich die ersten zwei Sekunden nach dem Umfallen sein können. Noch schreit niemand, noch versucht man, sich die Welt auf dem Kopf vorzustellen, wackelt mit den Füßen, die in den Himmel ragen und lässt die eingetretene Stille wirken, bis das Geschrei der Mitfahrer losgeht und der Benzingestank einen nach einem schnellen Ausstieg suchen lässt. Aber – dem Christkind sei Dank – niemand verletzt.
Wie viele Stunden mag ich so im Wald gestanden haben und wechselweise mit einem starken Ast und einer Eisenstange hilflos versucht haben, den Wagen vom Dach wieder auf die Räder zu bekommen? Kein Dorf weit und breit, keine Teerstraße in der Nähe. Nur das, was der Nordamerikaner nothing but fucking wood nennt. Die Vorstellung, dass der ADAC uns in diesem abgelegenen Waldstück helfen könnte, hielt uns eine ganze Weile bei Laune.
Es dämmerte bereits. „Zu Hause zünden sie jetzt die Lichter an“, sagte ich zu meiner Frau, als ein Motorengeräusch uns aufschreckte. Ein riesiger Traktor mit einem kleinen Bauern darauf, der im Wald noch einen Baumstamm holen wollte, erschien uns als Weihnachtsmann. Er besah sich unser Elend, löste wortlos eine Seilwinde an seinem Traktor, und in wenigen Stunden stand das zerbeulte Auto wieder auf den Rädern. Er hieß Maurizio. Ich nenne ihn „Santo Maurizio“. Es war wieder so ein Moment, wo ich kurz davor stand, in die katholische Kirche einzutreten.
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