PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH : All you can read
Warum ich so gerne für kostenlose Anzeigenblätter schreibe
Die Entscheidung für das Thema dieser Kolumne fällt stets nach dem Rüttel-Prinzip: Ich werfe alle Vorfälle und Begebenheiten der vergangenen 14 Tage in ein Sieb, drücke in meinem Hirn auf den Rüttel-Schalter und schaue, was nach einigen Minuten noch nicht durchs Raster gefallen ist. Übrig bleiben schließlich die größeren Brocken, die ich dann einzeln gegeneinander abwäge.
Nach vier Minuten Rüttelzeit fand ich heute Morgen folgende Themenauswahl vor: 1) „Ford nach Albanien“ (Freunde aus Albanien waren am Sonntag überraschend bei mir zu Hause aufgekreuzt, um einen Gebrauchtwagen zu kaufen). 2) „Pfiffe für den Neger“ (bei einem von mir und meinem Sohn besuchten Fußballspiel der Regionalliga Süd gab es Dauerpfiffe für einen schwarzen Gegenspieler). 3) „Das Haus meiner Oma Emma“ (ein Spekulant hat das schöne alte Haus meiner Großmutter verkommen lassen. Jetzt wird es abgerissen).
Ich bin mir auch nach reiflicher Überlegung, welches dieser Themen den durchschnittlichen taz-Leser am meisten interessieren könnte, nicht wirklich sicher. Keines hat mit Sex zu tun oder mit Gammelfleisch. Dann wäre es einfach. Lieber wäre es mir, die Leser würden selbst darüber abstimmen und ich schriebe dann auf Zuruf die gewünschte Kolumne. Doch dafür fehlt die Zeit: Abgabetermin ist in wenigen Stunden.
Zu all dem gesellt sich ein weiteres Problem: Leser ist nicht Leser. Der Zahnarzt in Gummersbach denkt, fühlt und reagiert ganz anders als beispielsweise der Gabelstaplerfahrer in Stuttgart oder der Biobauer in Seebronn auf das geschriebene Wort. Über was der eine lacht, lässt den andern empört zur Mistgabel greifen. So eine Kolumne ist nämlich schnell geschrieben – doch wer zählt die Stunden, die es dauert, anschließend die elektronische Blitzpost (E-Mail) oder empörten Briefe an den darauf folgenden Tagen zu beantworten?
Seit ich auch für Anzeigenblätter meiner Heimatregion eine wöchentliche Kolumne verfasse, bin ich sehr vorsichtig geworden. Niemand ist so reizbar wie der Leser von lokalen Anzeigenblättchen. Vielleicht weil diese Zeitungen nichts kosten und ungefragt in jeden Briefkasten gesteckt werden, fühlt sich auch der Leser bei seiner Reaktion nicht an Konventionen gebunden. Jedenfalls beginnen viele der Briefe ohne Anrede mit Ausdrücken wie: „Pfui!!!“, „Sie Schmierfink!!“, oder „Mit Abscheu und Empörung las ich …“ Einem Autor der Zeit würde man zumindest höflich begegnen: „Sehr geehrter Herr Martenstein, ihre Kolumne in der Zeit vom vergangenen Donnerstag habe ich mit einigem Befremden gelesen.“ Ehe man dann zur Sache kommt.
Vor wenigen Wochen stand der Präsident der örtlichen Hells-Angels-Gruppe persönlich vor mir, weil ihm die Kolumne gar nicht gefallen hatte. Während er in dürren Worten erklärte, die Hells Angels seien, anders als in dem Anzeigenblatt behauptet, keine mafiose Gruppierung, zeigte er mir seine tätowierten Unterarme und ich hatte keine andere Chance, als ihm zu glauben. Einer Gegendarstellung stimmte ich sofort zu. Und die vergangenen Tage verbrachte ich damit, mich bei den Fußballfans des SSV Reutlingen dafür zu entschuldigen, dass ich ihr ausdauerndes Pfeifkonzert gegen einen dunkelhäutigen Gegenspieler aus Saarbrücken als Rassismus missverstanden hatte.
Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter ist nichts gegen die Angst des Kolumnenschreibers vor dem Leserbrief. Manche besitzen inzwischen meine Telefonnummer. Und viele davon sind Frühaufsteher. Schlaftrunken höre ich mir an, dass ein Rentner beim Besuch seiner Frau im Pflegeheim einen Strafzettel für falsches Parken bekommen, dass eine Verkäuferin im größten Haushaltswarengeschäft der Stadt sehr unfreundlich auf ein Kind reagiert und dass der Busfahrer an einer Haltestelle nicht auf einen Gehbehinderten gewartet hat. Das sind die wahren Skandale, die täglichen Ungerechtigkeiten, über die viel zu wenig in der Zeitung steht.
Aber das nur vorweg. Jetzt zur eigentlichen Kolumne.
Fragen zur Leserschaft? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS