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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Das große Schweineschießen

Ich bin stolz, ein Kirchentellinsfurter zu sein. Denn Provinz ist woanders: in Hamburg, München oder Köln

Angela Merkel stammt aus Quitzow bei Perleberg, Gerhard Schröder kommt aus Mossenberg und der Papst aus Marktl am Inn. Große Geister, kleine Orte. Das Who’s who der deutschen Prominenz liest sich wie ein Provinzatlas: Dollnstein, Metzingen, Ibbenbüren. Es gibt dagegen so gut wie keine berühmten Menschen aus Berlin, Köln, Hamburg oder München. Dort leben sie zwar heute fast alle, aber geboren wurden sie in Solingen (Veronica Ferres) oder in Hermülheim (Michael Schumacher). Von Leimen und Brühl will ich hier gar nicht reden.

Ich bin stolz, ein Kirchentellinsfurter zu sein. Ich empfinde es nicht als Erniedrigung, wenn in Berlin ein Fahrkartenverkäufer der Bahn zu lachen anfängt. Ignoranten gibt es schließlich überall. Woher soll er auch wissen, dass Kirchentellinsfurt schon im Jahre 1007 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Berlin erst 1244. Wir feiern also in diesem Jahr unsere 1.000-jährige urkundliche Erwähnung mit Dorfstraßenfest und Festumzug durch die Dorfstraße. Die Dorfstraße ist ungefähr 234 Meter lang. Auch Mittelehrenbach und Mönchsdeggingen feiern in diesem Jahr ihr 1.000-jähriges Bestehen. Und Thuisbrunn. In Waggum begehen sie dieses Jubiläum mit einem „großen Schweineschießen für jedermann“. Wahrscheinlich wird dort eine Sau durchs Dorf getrieben und die betrunkene Landjugend darf ihr mit dem Luftgewehr Beine machen. So funktionieren „Killerspiele“ in der deutschen Provinz. Ganz ohne Computer und DVD. Dann folgt das „Volkskönigschießen“, das „Frühstückspokalschießen“, und den Ausklang des 1.000-jährigen Jubiläums begehen die Waggumer Bürger schließlich mit einem „Weihnachtspreisskat“. Manche europäische Sprachen haben den Begriff „Hinterland“ aus dem deutschen übernommen, weil sie kein Wort dafür hatten. Deutschland ist im Grunde ein einziges „Hinterland“ und Berlin kann auch nur mühsam kaschieren, dass es aus lauter einzelnen Dörfern besteht. Der rote Teppich der Berlinale wird in den nächsten Tagen wieder eingerollt und wahrscheinlich in einem Heuschober von Lübars bis zum nächsten Jahr aufbewahrt. Das ist die Wahrheit.

Wer wirklich Provinz erleben will, muss dagegen nach Hamburg reisen und beispielsweise an einer Mitgliederversammlung des „Vereins geborener Hamburger“ teilnehmen. Dann weiß er, was provinzielle Piefigkeit bedeutet. Mit etwas Glück kann man dort Vorträge hören mit Titeln wie „Von düt und dat und alerwat“. Danach fährt man beseelt zurück nach Kirchentellinsfurt oder Ostrhauderfehn und fühlt sich wie ein Kosmopolit. Das Gefühl von Enge und Begrenztheit habe ich am stärksten in Köln erlebt. Es wacht in diesen Tagen wieder in mir auf, wenn ich durch das Abendprogramm zappe und eine der unzählig-unseligen Prunksitzungen anschaue. Über diese Witze würde in Ödenwaldstetten niemand lachen, aber in Köln finden sie sogar einen rosarot angemalten Joghurtbecher zum Quieken komisch. Wie ein Außerirdischer saß ich vor Jahren im Publikum solcher Veranstaltungen und musste einmal sogar auf die Bühne kommen und zusammen mit älteren Herren „Stippeföttsche“ tanzen. Dabei reiben sich erwachsene Männer die Hintern aneinander. Dieselben Kölner machen sich gerne über die Dorftrottel ihrer Umgebung lustig. Autofahrerinnen aus dem Nachbarkreis Düren (DN) nennen sie „Dumme Nuss“, und sehen sie jemanden aus Euskirchen (EU) auf der Straße, rufen sie ihm „Esel unterwegs“ hinterher. So sind sie, die Großstadt-Provinzler. Eine alte Bekannte aus Berlin kann sich bis heute den Ortsnamen Kirchentellinsfurt nicht merken. „Tellerfurz“ sagt sie, ich sehe es ihr nach.

Eine Freundin aus Hamburg schickte mir vor ein paar Tagen den Satz eines Schweizer Schriftstellers: „Wenn Gott nach Hause geht, fährt er nicht in den Himmel, sondern in die Provinz.“ Kann man es schöner sagen? Ich jedenfalls werde beim 1.000-jährigen Jubiläum von Kirchentellinsfurt durch die Dorfstraße mitmarschieren, und wenn es sein muss, auch den Spätzles-Hobel dazu schwingen.

Ideen fürs Dorffest? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS