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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Rutscht mir den Jakobsweg runter!

Anhalten, um nachzudenken: Jeder sollte das tun. Sonst wird man angehalten. So wie ich

Vor ein paar Tragen schickte mich die Redaktion des Stern nach Santiago de Compostela in Spanien. Ich sollte am Ende des Jakobsweges Pilger nach ihren Erfahrungen befragen. Dort angekommen, traf ich Gläubige und Ungläubige, Junge und Alte, Bayern und Preußen. Aber alle hatten sie den gleichen zufriedenen Gesichtsausdruck.

Für mich ergibt es keinen Sinn, von A nach B zu laufen, wenn man nicht entweder etwas hinbringen oder etwas abholen muss. Ich war ein Jahr meines Lebens als Postbote bei der Deutschen Bundespost beschäftigt. Da bekommt man zum Laufen eine prägende Einstellung.

„Es muss Sinn ergeben“, hatte der Chef des italienischen Sportwagenherstellers Maserati einmal zu mir in irgendeinem mir nicht mehr ganz geläufigen Zusammenhang gesagt, und der Satz ist mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

„Sinn ergeben“. Von Augsburg nach Santiago zu Fuß laufen ergibt keinen Sinn. Jedenfalls nicht für mich und solange Ryanair für ein paar Euro auch dorthin fliegt. Auf einen Berg steigen, wenn eine Seilbahn hinaufführt, ergibt ebenfalls keinen Sinn.

Warum aber, frage ich mich, machen einhunderttausend Pilger jedes Jahr etwas so Sinnloses?

Einem Schwaben soll einmal beim Warten auf seinen Cappuccino in einem Straßencafé von Florenz der Stoßseufzer entfahren sein: „Drhoim sott ma s’Obscht ra do“ (Zu Hause müsste man das Obst herunterholen.)

Der Mann wusste eben, was Sinn ergibt und was nicht. In einem Straßencafé zu sitzen, während zu Hause die Äpfel am Baum verfaulen, ergibt keinen Sinn. Wer eine sinnvolle Beschäftigung hat, muss nicht nach Santiago pilgern, und wer Probleme in seiner Beziehung hat – auf den einsamen Wegen dorthin wird er sie nicht lösen.

Natürlich habe ich meinen Kerkeling gelesen. Seite 343 zum Beispiel: „Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er macht dich kaputt und leer. Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück. Du musst ihn alleine gehen, sonst gibt er seine Geheimnisse nicht preis.“ Aber wirklich verstanden habe ich das nicht.

So dachte ich und so denke im Grunde noch immer. Nach meiner Rückkehr wollte ich schnell weiterarbeiten an den Stapeln unfertiger Aufträge. Doch schon im Flugzeug fühlte sich mein Hals dick an, das Schlucken tat weh und die Augen drückten. Seither liege ich im Bett mit Fieber, nun schon den dritten Tag. Will ich aufstehen, knicken mir die Füße ein, will ich im Bett schreiben, schlafe ich vor Schwäche ein. Drei Jahre schon nicht mehr krank und nun das: die Spanische Grippe.

In meinen Fieberträumen sehe ich den langen Weg zwischen den Pyrenäen und Santiago de Compostela und erkenne mich dabei als Hamster in einem Rad am Wegesrand. Während sich das Rad immer schneller dreht, kommen die übergroßen Wanderschuhe der Pilger auf mich zu und drohen mich zu zerquetschen.

Krank sein ergibt den allerwenigsten Sinn von allem. Dann doch lieber Pilgern. Pilger, heißt es, sind gesündere Menschen. Sie laufen und halten dennoch ihr Leben gleichzeitig an. Laufen, um anhalten, um nachzudenken. Jeder sollte das tun. Sonst wird man angehalten. Wie ich. Mühsam und unter Schmerzen schleppe ich mich morgens aus dem Bett, gehe langsam die Treppe hinunter und koche mir einen Tee mit Honig. Ich hasse Tee und ich mag keinen Honig. Aber auf einmal hoffe ich, dass mir Tee und Honig helfen, wieder gesund zu werden.

Liebe deine Feinde, kommt mir in den fiebrigen Sinn, dann schleppe ich mich wieder hinauf ins Bett. Vom Bett zum Teekocher und wieder zum Bett – das ist mein Jakobsweg.

Dauernd klingelte in den vergangenen Tagen das Telefon oder meldete sich per Klingelton die Ankunft einer neuen E-Mail: Wo bleibt dieser Text, wo jenes versprochene Stück?

Bis ich Telefon und Computer abschaltete. Ende, Schluss, rutscht mir den Jakobsweg runter!

Fragen zum Weg? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS