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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT ÜBER KLATSCHDIE TOSKANA-FRAKTION WAR KLEIN, ABER SEHR SYMPATHISCH. SIE HAT SICH AUFGELÖST. EIN NACHRUF Wir werden von Senfgurken und Ballermännern regiert

Das waren noch Helden! Wenn sie in Berlin ihre Weltgeschäfte erledigt hatten, zogen sich der Gerd und sein Joschka auf ihr Landgut in der Toskana zurück und beobachteten bei einer oder zwei Flaschen Chianti, wie der Schatten der Zypressen in der Abendsonne langsam über die Terrasse wanderte. Vielleicht war die Toskana-Fraktion ja die kleinste je im Bundestag vertretene Fraktion. Aber mit Sicherheit hatte sie große Sympathien, und wäre sie unter ihrem Namen zu Wahlen angetreten, man hätte fürchten müssen oder hoffen dürfen, dass sie eine mächtige Partei geworden wäre.

Der häufige Versuch der damaligen Opposition, die rot-grünen Lebemänner mit dem Begriff der „Toskana-Fraktion“ zu desavouieren, war völlig schiefgegangen und hatte sich schnell in sein Gegenteil gekehrt. Zumindest schwang auch bei den Gegnern der Toskana-Fraktion immer ein bisschen Neid und Achtung mit.

Rote Genießer, das hatte schon immer einen erstaunlichen Reiz. Dabei antworteten die Betroffenen stets, es handle sich um ein Missverständnis, wenn behauptet würde, sie würden das Bistecca Fiorentina dem Aktenstudium vorziehen.

Was ist aus ihr geworden? Peter Glotz, eigentlicher Gründer und Chef der Toskana-Fraktion, ist seit fünf Jahren tot. Gerhard Schröder sieht man inzwischen häufiger in Russland als in Italien, und der bedauernswerte Joschka Fischer muss als Lobbyist der Nabucco-Pipeline jetzt das Hohelied auf den bulgarischen Wein singen. Die Landgüter zwischen Siena und Florenz sind verwaist, die Immobilienpreise fallen. Und kaum hatten die rot-grünen Politiker ihre Liegestühle eingepackt, haben Berlusconi-Anhänger auch in der bis dahin von linker Hand regierten Toskana immer mehr Rathäuser gestürmt. Unwidersprochen schrieb kürzlich die größte Zeitung der Region, La Nazione, von „ethnischer Verschmutzung“ und meinte damit die Ehe zwischen einem Italiener und einer Migrantin.

Der Zustand der deutschen Politik war immer auch an den Sehnsuchtsorten ihrer Galionsfiguren festzumachen. Helmut Kohl liebte den Wolfgangsee, eine der langweiligsten Ferienregionen Mitteleuropas. Helmut Schmid urlaubte am Brahmsee in Schleswig-Holstein, wo Genuss als Schimpfwort gilt.

Und heute? Guido Westerwelle bekennt sich euphorisch zu Mallorca als „meine Lieblingsinsel“. Und von Angela Merkel ist nicht bekannt, dass sie das Wort Sehnsucht überhaupt buchstabieren kann. Sie könnte die Uckermark-Fraktion gründen oder die Spreewald-Fraktion. Dort isst man Senfgurken und Rahmkartoffeln. So gesehen ist das Ende der Toskana-Fraktion ein Alarmsignal. Wir werden von Senfgurken und Ballermännern regiert, während in der Toskana die Rassisten auferstehen.

Jetzt hilft nur eines: Brunello bestellen und auf den letzten seiner Fraktion, Otto Schily, das Glas erheben. Er ist der letzte Toskaner, ein Fraktionschef ohne Fraktion. Ein trauriger alter Mann sitzt auf einem noch älteren Landgut und schaut auf die Silhouette des mittelalterlichen Städtchens Asciano.

An Ostern beginnt traditionell die Seminar-Saison in der Toskana. Auf jedem zweiten Bauernhof bieten Psychologen und Djembe-Trommler und Meditationstrainer ihre Hilfe bei der Bewältigung des Alltags an. Wie wär’s mit „Spirituelles Erwachen in der Toskana“ (11.–17. April) oder Dolo-Taping („Bitte eine Wolldecke mitbringen“)? Dann vielleicht doch noch warten bis Juni und in die „Villa Belverdere“ zu „Veränderungen – Fluch oder Segen?“ Den Kursteilnehmern wird ein „Wechsel ins neue Zeitalter“ versprochen.

Endlich.

Hinweis:Fragen zu Otto Schily? kolumne@taz.de MITTWOCH: David Denk über FRAUEN