piwik no script img

Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT ÜBER KLATSCHDAS SIGNAL STEHT AUF ROT. GESTERN HABE ICH MEINE MÄRKLIN-EISENBAHN ABGEBAUT. FÜR IMMER Weltuntergang in Neustadt

Im Februar hörte man aus vielen deutschen Kellern ein herzzerreißendes Schluchzen. Männer mit ergrauten Haaren standen am Schaltpult ihrer Modelleisenbahn, ließen gerade einen Schienenbus oder den Güterzug in den Hauptbahnhof von Neustadt einfahren und stellten das Signal auf Rot. Dann weinten sie wie Kinder.

Märklin ist pleite. Keine Nachricht aus der Wirtschaft hat bei der Generation Ü-50 so tiefe Wunden geschlagen wie diese: Der schwäbische Modelleisenbahnbauer aus Göppingen hat Konkurs angemeldet. Bald wird es keine Ersatzteile mehr geben. Bald wissen Tausende nicht mehr, was sie nach fünf Uhr tun sollen.

Märklin war die schönste Lüge der Welt. Millionen deutscher Väter bauten ihren Kindern (Söhnen) kleine Traumwelten. Tagelang friemelten sie haardünne Drähte von Weichen zusammen, erleuchteten Burgruinen und steckten mit ihren globigen Händen ganz zärtlich leicht zerbrechliche Schienen ineinander. Für ihre Kinder, behaupteten sie. Dabei taten sie es meist nur für sich. Man muss nur einmal in die weltgrößte Märklin-Ausstellung in der Hamburger Speicherstadt gehen: Kinder sieht man dort zwar auch, aber vor allem Väter und Großväter, die mit glänzenden Augen den Zügen hinterherschauen. Märklin war nie wirklich ein Kinderspielzeug. Es war ein Väterspielzeug. Von Eisenbahn spielenden Frauen oder Mädchen ist wenig bekannt.

Sollte die Firma Opel in Konkurs gehen, bedeutet das nicht den Weltuntergang. Aber mit Märklin geht tatsächlich eine Welt unter. Die heile Welt von Neustadt. So stand es jedenfalls auf dem Bahnhof meiner kleinen Welt, die mir mein Onkel Walter jedes Jahr in neuen Variationen aufbaute. Der Mann war Schmied von Beruf, man kann sich die Hände vorstellen, wie sie die Feder einer Bogenweiche in die winzige Öffnung der nächsten Schienen stecken. Erst viele Jahre später wurde mir klar, was dieser Mann in unzähligen einsamen Stunden auf dem Dachboden seines Reihenhäuschens für mich getan hat. Ich könnte losheulen vor Dankbarkeit. Ich glaube wirklich, er hat es für mich getan. Und weil ich wollte, dass mein Sohn auch einmal losheult, wenn er an seinen alten Vater denkt, fing ich vor drei Jahren an, Neustadt wiederaufzubauen. Wenn ich, was selten vorkam, eine halbe Stunde Zeit hatte, legte ich mich unter die Spanplatte und fummelte an Drähten herum, legte wieder ein paar Schienen durch einen halb fertigen Tunnel, dann klingelte aber meist schon wieder das Telefon. Neustadt wurde jedenfalls nie fertig und stand bis gestern als halb fertige Geisterstadt in der Wohnung herum. Mein Sohn und seine Freunde interessierten sich nicht dafür. Wenn überhaupt, dann ließen sie auf dem ersten fertigen Schienenkreis zwei Lokomotiven mit voller Geschwindigkeit aufeinanderprallen und lachten, wenn die zierlichen Maschinchen von der Platte fielen. Dann fragten sie mich, ob sie Computer spielen dürften.

Gestern war es genug. Ich baute die Märklin-Eisenbahn wieder ab. Für immer. In Kartons verpackt steht Neustadt jetzt im Abstellraum. Dort wird alles verstauben, und irgendjemand wird die Kisten in hundert Jahren finden und sie kopfschüttelnd auf den Müll werfen. Der Zug ist abgefahren.

PHILIPP MAUSSHARDT

KLATSCHHaben Sie auch Fragen zur Bahn? kolumne@taz.de MORGEN: Adrienne Woltersdorf ist OVERSEAS